24.8. 2010
Das kapitalistisch-ökonomistische Getue des New Public Management ist eine Art Gesslerhut, den zu grüßen die Loyalität der Angestellten kontrolliert. Früher waren es die Platitüden des sozialdemokratischen Kulturaustauschs. Heute die Zielvereinbarungen, Planungssoftwares, Controlling-Instrumente, Exel-Tabellen. Jenseits dieser beiden Quatschsorten liegt und beginnt manchmal (selten) etwas Lebendiges, wofür das Institut, wenn es gut läuft, einen Rahmen (aber auch nicht mehr) bieten kann. Anke-Wiegand-Kanzaki und Curt Meyer-Clason konnten das, Georg Lechner und Klaus Vetter konnten es manchmal, mir ist es in Krakau und in New York zum Teil gelungen, glaube ich. Von meinen Zeitgenossen: Martin Wälde vielleicht.

27.8.2010
Der Blick von meiner Terrasse auf die Kennedy Bridge, obwohl er paradoxerweise erst durch die Abholzung der Schwarzpappel und die hässliche, unzumutbar lärmende 24/7-Baustelle der 2nd-Avenue-Ubahnstation eröffnet worden ist, zeigt eine sonnige Ideallandschaft des Industriezeitalters. Heitere Jollen, schwere, grauschwarze Tanker, die elegante Uferstraße in Queens, die erstaunliche Brücke, das meerbreit studelnde Wasser, die Flugzeuge darüber, die sich in regelmäßigen Abständen auf JFK herabsenken. Ein kapitalistisch-realistisches Kolossalgemälde. Dazu stinkt es schon morgens um 7 aus dem Mexikaner im Parterre nach Essen und die Großbaustelle wummert und rumort. Fleiß und Industrie, von meiner Terrasse aus beobachtet.

1.9.2010
Eine wirklich wichtige Rezension (von Hilmar Klute) in der “Süddeutschen”. Er sieht und sagt, dass ich ein eigenes Genre erfunden habe, das in der “Fifth Avenue” zur “Meisterschaft” gediehen sei. Endlich sieht jemand, dass mein Schreiben überhaupt etwas ist, etwas Spezifisches, eben nicht nur kein Roman oder nicht das, was man traditionell von einem Essay oder Reisebuch erwartet. Er rezensiert, was er liest, während die schlechten Rezensionen meiner Bücher, auch wenn sie mich loben, allzuoft rezensieren, was nicht dasteht, was meine Art von Essayismus eben nicht ist. Besprechung mit Mitchell Codding, dem Direktor des Museum der Hispanic Society, wir sitzen in einem riesigen, getäfelten, bis auf ein paar Statuen und eine Renaissancetruhe fast leeren Besprechungszimmer, und es riecht nach Bienenwachs. Als ich zurück ins Büro komme, sehe ich, dass auch der “Spiegel” eine seiner Kurzrezensionen über das Buch gebracht hat. Triumphgefühle, ins “Ludlow”, die Praktikantin irgendwie von mir genervt, wie mir scheint, vielleicht durch meine narzisstische Geblähtheit aufgrund gleich zweier prominenter Rezensionen. Lucia mit ihrem Freund, sie ist Mitbetreiberin des “Hit”. Zuviel Alkohol beim Franzosen, dafür am Donnerstag früh und ohne ins Bett.

7.9.2010
Fahrt nach New England. Gut rausgekommen, wunderbares Frühherbstwetter, das “vergeistigte”, irgendwie gebrochene Licht. Starke Einsamkeit. Der Navi funktioniert nicht. In Pittsfield MA das Haus Hermann Melvilles. Ich zeichne die Aussicht aus seinem Studierzimmer auf einen Bergrücken, der ihn angeblich an die Form eines Wals erinnert hat (so der guide). “Moby Dick” war zuerst als Sachbuch konzipiert. Erst Hawthorne regte an, es fiktional anzulegen. Melvilles abenteuerliches und oft erfolgloses Leben, das vergessene Alter als nicht sehr ernstgenommener Schriftsteller, das Nichtverstehen seiner literarischen Eigenheit durch die Zeitgenossen, der Herztod und das posthume Melville-Revival in den Zwanzigerjahren. Es scheint mir alles sehr traurig. Oder dann, auf lange Sicht auch wieder nicht, denn wir sehen heute nicht die marginale Figur, die er im Leben war, sondern die literaturgeschichtlich überragende, die er währenddessen eben tatsächlich zugleich auch war (obwohl nur wenige das wussten und er selbst oft genug daran gezweifelt haben wird). Ein zu Lebzeiten ungekrönter König, prekär und unruhig in fremden Ländern umherwandernd und -segelnd. Durch die wundervolle Landschaft weiter, immer euphorischer. Übernachtung in dem vorbestellten guesthouse in Williamstown MA. Noch am Nachmittag in dem hochbedeutenden Clark Museum, mitten in der tiefen Provinz, wo ich Picasso und Degas studiere. Einsamkeit, erotische Frustration. Wie schön wäre es, diese Reise mit jemandem zu erleben. Andererseits: besser als streiten oder sich dauernd anpassen zu müssen, wie es auf vergangenen Reisen zu zweit so oft war. Das in die hügelige Landschaft eingefügte Campus des Williams College in der abendlichen Herbstsonne. Hier liegt das “Purple Valley”, das Ry Cooder auf seinem Album-Cover mit seiner Frau in einem altertümlich luxuriösen cremefarbenen Buick durchfährt, einer der größten ästhetischen Eindrücke meiner frühen Zwanzigerjahre; Q. identifizierte uns als Paar später mit den beiden. Ein Mythos meiner Jugend, zusammen mit der wundervollen Musik und dem second-order-Konzept des Ganzen, die für mein Schreiben schon damals wichtig war (was ich nicht verstand).

8.9.2010
Das schöne Frühstück in Williamstown. Die Herbstsonne kommt langsam über den hohen alten Bäumen herauf, sie tropfen und dampfen nach nächtlichen Regengüssen. Ich lese Melvilles “Bartleby”, das ich seinem Haus gekauft hatte. Die hübsche, verschlafene Kellnerin. Ich denke darüber nach, dass mir das Wichtigste mein inneres Leben ist. Das ist meine eigentliche Begabung, und sie macht mich reich und einsam zugleich. Jede, die mich auf dieser Reise begleiten würde, wäre frustriert von mir und von meinem idiosynkratischen, für jemand anderen oft nicht nachvollziehbarem Erleben.

Lang in Robert Frosts Farmhaus in Derry NH. Ein ganzer Raum ist “On Stopping by Woods on a Winter’s Evening” gewidmet. Frost war einer der weigen Lyriker, die vom Schreiben gelebt haben – und gut, wie es scheint. Ich zeichne einen Obelisken, den es romantisch in die Landschaft verschlagen hat und der in der Entfernung über bewaldete Hügel ragt (Erinnerungen an die romantische Kunstlandschaft in Teplice, wo ich 2003 so glücklich war). Die kleine, weiße Kirche des Orts. Frosts Grab. Danach fahre ich lang durch die grandios verlassene Waldlandschaft, in der Entfernung ist ein Berggipfel mit indianischem Namen sichtbar. Ich komme schließlich in das friedliche, mich auf schwer erklärliche Weise beruhigende, sonnig-spätnachmittägliche Peterborough, das Vorbild für Thornton Wilders “Our Town”, wo ich mich in einem angenehmen Hotel installiere und in dem Coffeeshop des riesigen, überlegt und kenntnisreich geführten “Toadstool Bookstore” einen Wein trinke. Ein kurzes Gespräch mit einer schönen älteren Frau, einer Opernsängerin, und ihren Töchtern. Sie redeten am Nachbartisch über Bücher. Durch den Herbstabend ins Hotel, noch ein Wein und Lektüre auf der Terrasse.

9.9.2010
Lesefrühstück: “Our Town”. Rührend; aber keinen Augenblick sentimental. Im iPod lectures der “Teaching Company” über die “New England Transcendentalists” während der Autofahrt durch den Wald. Irgendwie ist mir das Ethos der Selbstvergottung in der amerikanischen Geistesgeschichte auch unsympathisch. Im Innern vieler Menschen (Charles Manson zum Beispiel) findet man eben etwas Anderes als Gott. Und in der Natur? Get out of here! Great American Phonies. Auf dem schlimmen Ende des Spektrums findet sich auch das ressentimentgeladen-hysterische Innere von Y. Auch das Kant-Missverständnis im Wort “Transcendentalism” stört mich irgendwie. So nehme ich das alles respektvoll, aber auch distanziert zur Kenntnis. Dann Concord. Das amerikanische Weimar. Quälend ausführliche Erläuterungen jeder unwichtigen Einzelheit durch eine matronenhafte Fremdenführerin in Hawthornes Haus. Walden Pond.Ich laufe einmal ganz drumrum. Absolut phony. Thoreau war in unmittelbarem Kontakt mit dem Stadtzentrum, das in Spaziergangsnähe liegt. Eine Eisenbahnlinie verlief schon damals ein paar hundert Meter von seiner Hütte (die man rekonstruiert hat) durch den Wald. Irgendwie ein bisschen lächerlich. Sehr schönes Hotel (“Concord Colonial Inn”), gutes Abendessen. In der Dämmerung ein Gang durch die schöne, geschmackvoll restaurierte kleine Stadt. Eine Art Paradies (in dem ich es keinen Monat lang aushalten würde). Vor dem Einschlafen lese ich Hawthorne. Er besetzte im Gegensatz zu Emerson – dem Concord-Goethe – eine Art E.T.A. Hoffman-Planstelle. Gut geschlafen. Schreibe dies beim Frühstück. Diese Reise tut mir unendlich gut.

In Cape Anne sitze ich lang am sonnenglänzenden Meer. Keine Wolke am Himmel, Karmorane und Möven fliegen. In der taz ist mein Artikel über David Shields “Reality Hunger”. Ich will wieder öfter ans Meer, ich merke, wieviel das in mir aufrührt und heilt. Erinnerungen an den Pazifik in Shin-Zushi. Gestern nach einem schönen Abendessen 2 Weißwein. Die vielfältigen, dauern wechselnden Farben und Texturen des Meeres in der Dämmerung, von tief makrelenblau zu bleifarben, von glänzend zu teflonmatt. Lese Arthur Millers “The Crucible” beim Frühstück. Gestern noch im “Orchard House” in Concord. Eine Führung mit Leserinnen der “Little Women”, die wichtigen pädagogischen Experimente von Amos Bronson Alcott, die “Fruitland”-Kommune. Und ich sah das Haus von Gropius in Lincoln. Wie nach Hause kommen (Erinnerungen an die Kiefern vor der Weißenhof-Siedlung in Stuttgart auf meinem großen Spaziergang am Tag vor meinem mündlichen Staatsexamen in Literaturwissenschaft). Klein, intim, elegant. Die rührende und wunderbare Ehe der beiden. Das Kind. Die Natur. Man sah den Walden Pond von hier aus. Als sei ich als Kind irgendwie in dieser Landschaft gewesen. Crushing loneliness auf der Fahrt nach Cape Anne. Ich suche Abends Kiesel am Strand.

Dann nach langer, das Alptraumhafte streifender Suche (ich hatte nichts vorgebucht), ein spukpalasthaft riesiges Roadside Hotel. Sehr bedrückend. Vom Highway aus sieht das Gebäude proper aus, innen ist es eine Art Slum, mit obdachlosen Familien vollkommen überbelegt. Ganze Familien in einem Zimmer, in die ich im Gang durch das Stockwerk zum Teil hineinsehen kann, sie sind vollgestopft mit Hausrat (rührenderweise mit irren Mengen von Wasch- und Putzmitteln), man stellt den Müll in Plastiktüten in den Hotelgang. Bezaubernde Kinder, zum Teil sehr gepflegte Frauen, andere verzweifelt verwahrlost mit steinernen Gesichtern – sie sind alle arbeitslos und hoffnungslos hier am Rand eines Highways durch das einsame Land gestrandet. Die Kinder werden in Bussen zur Schule gefahren. Das andere Amerika, nur ein paar Autominuten von den idyllischen Hotels, in denen ich die Tage zuvor abgestiegen war. Düsteres Licht, eine Art Höllenstimmung in den endlosen Motelgängen. Ungutes Frühstück auf Plastiktellern am Morgen nach unruhiger und unbequemer Nacht (u.a. panische Angst vor bed bugs). Ein Vater, schwarz, selbst fast noch ein Teenager, macht seinem extrem süßen kleinen Sohn vor der Schule Cornflakes zurecht. Eine Aufsichtsperson, Typus der “Mutter der Kompanie”, schimpft, versorgt, tadelt, lobt – und bezeichnet sich in einem kurzen Gespräch mit mir als “grandmother” all der Kinder hier. Auch Soldaten, teils veritable Muskelpakete, sind hier untergebracht, sie steigen schon um 6 in Armeebusse, die sie zu ihren Einsatzorten bringen. Der erst recht unfreundliche Portier taut auf, als er sich für meinen “Kindle” interessiert und ich ihm das Gerät erkläre, er hatte noch nie eines gesehen.

10.9.2010
In einem studentischen Café in Amherst. Ich war möglichst früh aus dem deprimierenden Roadside Hotel aufgebrochen. In einem seit 6 Uhr morgens geöffneten Buchladen kaufe ich einen Reader mit Grundlagentexten des American Pragmatism, den ich jetzt zu Muffins und bottomless coffee anlese. Die kleine, sehr zauberhafte Stadt aus dem neunzehnten Jahrhundert, einsam in einem Waldtal gelegen, das sehr berühmte College, eine Universität. Fast taigahafte, irgendwie nördlich wirkende Nadelgehölze. David Foster Wallace hat hier studiert, geschrieben, Tennis gespielt.

Um 10 macht das Hausmuseum von Emily Dickinson auf. Es liegt zwillingshaft neben dem ihres Bruders, das sensationell gut erhalten ist. Instinktive Abneigung gegen diese – sicher bedeutende und einmalige – Figur, die für mein Empfinden eher zur literarischen Outsider Art gehört, eine Art singularity im Universum der amerikanischen Literaturgeschichte. Unwillkürliche Abneigung auch gegen die verschwebte Weiblichkeit, die sich mit ihr identifiziert. Der vollkommene Rückzug aus der Gesellschaft mit 32, die weißen Gewänder, mein sich während der schwärmerischen Erläuterungen der Führerin immer mehr verdichtender Verdacht, dass sie in Wirklichkeit psychotisch war. Spooky femininity. Und dann diese merkwürdig poesiealbumsartige Lyrik, kurze, unfertig und oft genug einfältig wirkende Gedichte, in die dann manchmal und blitzartig wirklich geniale Fügungen und Gedanken einschlagen wie ein Meteor. Freilich ist ihr Ian-Jeffrey-artige urgency nirgends abzusprechen. I don’t know. Es ist nicht wirklich meins.

Dann im zauberischen Herbst in Salem. “House of Seven Gables”: der seltsame Fall, dass Hawthorne eine fiktionale Geschichte über ein wirklich existierendes Haus schrieb, das man da jetzt also besichtigen kann. Eine seltsame Mischung aus Tourismusförderung durch Literaturgeschichte prägt die Rezeption des Romans: nachdem Hawthorne das eindrucksvoll ausladende und mit den namengebenden Giebeln, Gauben und Erkern kunstvoll elaborierte Holzhaus fiktionalisiert hatte, wurde es von einer Leserin und Mäzenin gekauft und nach Vorgaben der Fiktion so umgebaut, dass die verwickelte und unlogische Handlung von Hawthornes gothic novel von den Lesertouristen in diesem Hausmuseum nacherlebt werden konnte. Einbau von ursprünglich nicht vorhandenen Geheimtreppen, auf der Figuren auftauchen und wieder verschwinden konnten usw. (Parallele übrigens zu Dominic Hubers theatralem Vorhaben in 1014 Fifth Avenue!). Die Einnahmen wurden für philanthropische Zwecke verwendet. Zwischen den üppig blühenden Beeten um das perfekt restaurierte und liebevoll gepflegte Haus suchen mich schwere Melancholie- und Einsamkeitsanfälle heim. Keine Nachrichten von A. Ich darf diese Beziehung nicht mit meinen emotionalen Bedürfnissen überlasten, es wäre nicht fair. Trostsuche in einer katholischen Kirche (Salem hatte und hat eine große polnische Gemeinde). Auf der Fahrt durch die dramatischen Waldberge von Massachussets zuvor die Stimmung von “Sunday Morning”: It’s all those wasted years so close behind. Loslassen, mich selbst akzeptieren, wie ich bin. Nicht auf die inneren und äußeren Stimmen hören, die sagen: Du bist, wie Y. dich sah.

11.9.2010
Im “Yale Peabody Museum of Natural History”. Ich sehe die hiesigen Dioramen von James Perry Wilson, kleiner und intimer als die in New York – und das große Wandbild “The Age of Reptiles” von Rudolf Zallinger, dessen Illustrationen ich als kleiner Junger im Haushalt meiner Esslinger Großeltern anschaute. Beide Kunstwerke führen mich sehr tief in meine amerikanische und schwäbische Kindheit zurück und ich nehme mir, von ihnen innerlich sehr aufgerührt und erschüttert, für die nächste Zeit und die nächsten Jahre vor, auf mich aufzupassen und mich weder von meiner Einsamkeit noch von der widersprüchlich an mir zerrenden Doppelanforderung von Kunstszene und Institutsbürokratie erdrücken zu lassen. Ich übernachtete in Mystic CT, wo mich nachmittags der Seaport interessierte und rührte und wo mich nachts um 3 in dem sehr angenehmen kleinen Hotel der bisher schlimmste Dämonenanflug dieser an sich so schönen und innerlich ertragreichen Reise übermannte. Aber: du musst dir nichts mehr beweisen. Lass alles los!

Auf der weiteren Rückreise, schon überschattet vom zu erwartenden Jammer in New York, als letzte Station das Haus von Mark Twain in Hartford CT. Eine düster-riesige eklektizistische Villa, irgendwie Indisch-Deutsch-British. Ein Schulzimmer für seine Kinder, eine wunderbare Bibliothek, auf deren Kamin Gegenstände aufgestellt waren, zu denen – im Sinne der Ars Memoria – abends jeweils neue Geschichten erzählt werden mussten. Das Schönste: ein Billardzimmer und Jungesellenparadies unterm Dach, wo er schrieb. Irgendwann war das Geld alle (ein Normalbürger verdiente damals 400 $ im Jahr, Twain gab 40.000 $ aus). Twain ging daraufhin nach Europa, wo es billiger war (seine Tochter war gestorben) und begann eine Lesungs-Welttournee, übrigens nach dem Vorbild von Charles Dickens. Er kam als schwerreicher Popstar im Triumph zurück. In jeder Situation mit einer Zigarre, einem großen Scotch und einem – meistens wirklich total witzigen – Bonmot. Einer dieser Giganten des neunzehnten Jahrhunderts (Marx, Gladstone, Disraeli), der wie Churchill (den Twain während dessen amerikanischer Vortragsreise traf und in die Gesellschaft einführte) noch ins zwanzigste hinein geragt hat. Seine Frau starb weit vor ihm, er lebte trotz seiner 300 Zigarren im Monat noch praktisch ewig, immer im weißen Anzug.

15.9.2010
Humorlos-indignierter Verriss der “Fifth Avenue” im WDR. Die Rezensentin fühlt sich durch das Buch offenbar in ihrer intellektuellen Bequemlichkeit gestört: es steht nicht drin, was sie erwartet hatte. Unter anderem kann sie offenbar mit der stilistischen Ironie nichts anfangen, scheint sich geradezu bedroht (oder zumindest veräppelt) zu fühlen durch das gelegentlich parodiert hohe Register, das für kundigere Leser, wie Joseph Szeiler neulich sagte, den Reiz und die unterschwellige Komik der stilistischen Faktur ausmacht. Dieses Störgefühl – beim Schreiben, aber auch in der persönlichen Begegnung mit Menschen – verstärken! Da geht’s lang. Dare to be weird!

Nach der Rückkehr werde ich gleich wieder überfallen von Institutsquerelen, über die mich Eva umfangreich und dramatisch-farbig ins Bild setzt, worauf meine im Urlaub aufgebaute Distanz zu all diesem Dreck gleich wieder ins Wanken gerät. Unter anderem und vielleicht am bezeichnendst-deprimierendsten: am Premierentag von Dominic Hubers “Hotel Savoy”, dem außer Ludlow 38 vermutlich wichtigsten, teuersten und mit der theatralen Involvierung und Bespielung des alten Gebäudes auf der Fifth Avenue das gesamte Institut dringend angehenden Projekt meiner Amtszeit wurde der Betriebsausflug angesetzt. Deutlicher können die praktischen und psychologischen Bedingungen meiner Arbeit im New Yorker Institut nicht klargemacht werden. Unverblümter kann man mir nicht mitteilen, dass meine Arbeit (und deren beträchtliche öffentliche Resonanz!) dem Apparat des Instituts gleichgültig ist und meine Kollegen nicht interessiert. Es ist gar nicht bös gemeint. Es ist ihnen einfach und in aller Unschuld völlig egal. Ich bin so froh, dass das hier bald vorbei ist.