19.8.2011
Vor dem Café Nast auf dem Stuttgarter Karlsplatz in Erwartung eines Kaffees und einer Butterbrezel, sehr schwäbisch freundliche Bedienung. Heute Morgen noch, in meiner letzten Russisch-Stunde in Honnef, erzählte mein aserbeidschanischer Lehrer vom Einmarsch der Sowjet-Truppen 1990 in Baku, den er miterlebt hat. Starker Eindruck von seiner Erinnerung und Erzählung, die ihn selbst sehr bewegt. “Wir wussten: wir gehen nie mehr zurück; werden nie mehr Teil der Sowjetunion sein.” Gewalttaten. Das Grundböse dieses Regimes (lese gerade auch Orlando Figes’ “The Whisperers”). Hier in Stuttgart habe ich den späten Stalinismus als MSB-Spartakus-Mitglied verteidigt, als nützlicher Idiot. In der S-Bahn sehe ich meine Koffer nebeneinanderstehen, einer rot, einer gelb. Und ich erinnere mich an meinen letzten Abend hier vor der Ausreise nach London 1982. B. und C. hatten für mich gekocht und brachten mich später auf den Nachtzug, vor fast 30 Jahren.
Gestern gepackt, ich erreiche A. kurz in Istanbul bei seiner Foto-residency auf seinem Handy, telefoniere lang mit meinem Vater. Dann im sonnigen Garten meines Hotels ein Salat, ein Weißbier und zwei Weißwein. Früh ins Bett. Traum über Schlaffer. In einer sehr weitläufigen Wohnung bewohnte er nur einen kleinen Raum. Er spielte mir sehr popartige und faszinierende kleine Stücke zeitgenössischer E-Musik vor und ich dachte im Traum, wie schade es sei, dass ich das nicht schon früher gekannt und geschätzt habe. Wache zu früh auf und mache mir Sorgen.
20.8.
Bei Schlaffers in der Obertürkheimer Mirabellenstraße. Suppe, “Herrentorte”, Wein, wir sitzen im Garten, die Kartäuserkatze lärmt auf dem Terrassendach. Oft, wenn er redet, wird es hell. Er sieht immer noch sehr gut aus. Die in eine Art Eheballett eingefangenen subliminalen Ungleichgewichte und spielerisch ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten der beiden. Sie lobt Charlotte Roche, er meint, er lese sie wie einen Roman von Rabelais. Grobianismus als Vorläufer der ClitLit. Literatur müsse einfach alles dürfen, sonst könne nichts Gutes entstehen. Im Moment seien eben die Frauen dran, pornographisch herumzuschweinigeln, die Männer hielten sich eher zurück. Über Edward Said. Die deutsche Beschäftigung mit dem Orient sei auf die Säkularisierung zurückgegangen. Gott, so sei klargeworden, habe die Bibel nicht geschrieben, deshalb habe man herausfinden wollen, unter welchen Umständen sie entstanden sei. Über meine Amalgamierung von Reiseerzählung und Essay: durch sie werde die durch den Wegfall eines allgemein geteilten Bildungshintergrunds eigentlich unmöglich gewordene Gattung doch noch einmal möglich. Sie sehen den Essay als bildungsbürgerliche Gattung (Stanitzeks “hypodeiktischer Essay”). Der “personal essay” aber ist etwas anderes, gebe ich zu bedenken. Bildungsromane, sagt er, würden heute nicht mehr geschrieben, sondern gelebt (ich denke an A.). Gumbrecht habe gesagt, Schlaffer sei der einzige Philologe, der sich einen Namen gemacht habe, ohne sich mit einer Theorie zu verbinden. Über das Literaturmuseum in Marbach (Gfrereis ist seine Schülerin). Sie teilen meine Ratlosigkeit angesichts der neuen Ausstellungskonzeption. Wenn Ulrich Ott zu den Vorträgen komme, rede niemand mit ihm. Ich erzähle von meinen Gesprächen mit ihm über unser beider Schöntaler Zeit, Ott erlebte das Seminar in den fünfziger Jahren fast genauso wie ich in meiner Zeit (in die die Mondlandung und der Beatclub mit Uschi Nerke fielen).
21.8.
Im EC nach München zum Flugzeug nach Georgien. Schönes Frühstück auf der Hotelterrasse. Eine russische Familie am Nebentisch. Schöne Verwöhnung der sehr prinzessinnenhaften kleinen Mädchen, ein kantiger Mann mit Knochenwülsten über den Augen, eine fürsorgliche, eher unschöne Mutter. Den Vormittag lief ich lang in Stuttgart umher, sehr von Erinnerungen bewegt. In der Katharinenstraße. Das schockartige Auftreten der Angstzustände 1979. Von hier bin ich aufgebrochen in die Welt, dort zu bleiben wäre keine Alternative gewesen. Erstaunen darüber, wie viel in den letzten dreißig Jahren in meinem Leben passiert ist. Vollgepackt. Schon damals aber wusste ich, ratlos, unbeholfen, sehnsüchtig, aber mit instinktiver Sicherheit: ich würde all das auspacken müssen. So wie ich mich heute instinktiv nach einem Lebensmenschen sehne. In der Staatsgalerie. Mein Vater rief nochmal an, ein langes und vertrautes letztes Gespräch in Deutschland. Der Herrenberger Altar. Das Terrassenbild von Bonnard, das ich mit sechzehn zum ersten Mal gesehen habe und dann wieder als Zivildienstleistender: ein Bild des guten Lebens. Sisleys “Winter in Louveciennes” ist leider nicht da. Beckmanns “Reise auf dem Fisch”. Bewegt und traurig. Gefühl, irgendwo heimkommen zu wollen. Und doch muss ich wieder hinaus. Treffe auf dem Planie V. und M., meine ehemaligen Genossen. Ihr Sohn macht als linker Kommunalpolitiker Karriere. Sie arbeiteten in den verschiedenen Bewegungen mit (gegen den Bahnhofsneubau, V. trägt einen entsprechenden Button). Aber es gebe keine Möglichkeit “strategische Linien” dort einzubringen. Die heutigen Linken seien launisch, folgten ihren Impulsen und Interessen. Von der DKP kämen keine Impulse mehr. Sie sehen beide aus wie früher, reden auch wie früher. Sie sind ein bisschen unsicher mir gegenüber. Insgeheim denke ich: es ist vielleicht auch gut, dass ihr keine Impulse mehr setzt und Strategien vorgebt. Maultaschen, Haberschlachter, Salat in der Markthalle. Auf den Zug.
In der Abflughalle in Wien warte ich auf den Flug nach Tbilissi. Eine junge georgische Familie, zwei Kinder, ein kleines Mädchen ist behindert. Die Mutter geht unglaublich lieb mit ihr um, hält und küsst ihre Hand, fragt, ob sie eine Cola möchte, streicht dann dem kleinen Jungen, damit er sich nicht vernachlässigt fühlt, übers Haar. Die Abflughalle hat etwas Unterirdisch-Hadeshaftes, sie liegt unter der Zentralhalle. Es ist sehr heiß. Gestern trank ich noch sehr schön mit T. einen Wein im Literaturhaus. Gespräche über ihren Vater, der Feuerwehrmann war. Ihre Intelligenz, Zuverlässigkeit, Freundlichkeit und Anständigkeit hatten mir schon in New York gutgetan und imponiert. Ein letzter Gruß aus Amerika zum Abschied von Europa. Kurze Nacht. Nette georgische Stewardessen verschwinden plaudernd und kichernd mit großen Kartons Vollwaschmitteln in Richtung Maschine. Die Abfertigung sehr kasernenhofartig. Die Georgierinnen und Georgier. Eher hipsterhaft gestylt (das sexy Element herrschte dagegen vor im nebenan zum Einsteigen bereitgemachten Flug nach Dnjepropetrowsk). Sympathische Gesichter und entspannte Umgangsformen, es wird viel gelacht. Geräumiges Flugzeug, exzellenter Fensterplatz herrliches Wetter, gute Sicht. Die Hochkarpaten. Weite, unbewaldete, trogartige Hochtäler, durch Gletscherzungen entstanden, bewaldete Berge, die sich ins Hochgebirge auftürmen. Nadelwald, nur noch ganz wenige Dörfer und Straßen. Weiter hinauf Almen, schon herbstlich braun. Ruhiges, klares Frühherbstwetter liegt über dem Gebirgszug. Einsame kleine Bergseen. Keine wirklichen Schneegipfel. Dagegen heute morgen die Alpen als kompakte Wand im Süden. Wir überqueren eine Ebene, in die hinaus sich ein Fluß verzweigt. Langgestreckte gletscherzungenförmige Täler, in jedem ein Fluss, wieder Dörfer und helle Straßen. “Thrakien”, denke ich. Wir fliegen in diese Ebene aber nicht hinein, sondern links am Rand des Gebirges entlang. Denke viel an den Herbst 1979, als Q. nach Amerika flog, “Coming down again” von den Stones, die utopische Wartezeit, bevor die Panikattacken einsetzten. Wir haben das Gebirge inzwischen hinter uns, warten auf das Meer. Flaches, grünes, vermutlich sehr fruchtbares Land. Hierhin hat Augustus Ovid verbannt. Keine Turbulenzen, das Essen mäßig, es gibt keinen Wein-Nachschlag, etwas postsowjetisch-karg das Ganze. Euphorie breitet sich in mir aus. Die hypochondrischen Ängste, die mich in New York quälten, sobald ich das Institut betrat, melden sich als Gegenschlag freilich gleich wieder. Und zugleich dieses utopische Frühherbstwetter und die Erinnerung an Stuttgart, an V. und M., die Markthalle. Wir überfliegen die Donau. Begradigte Altarme werden sichtbar, zum Teil zu Seen aufgestaut. Runde Felder, wie in Amerika. Und plötzlich, vor uns: das Schwarze Meer. Unglaublicher Eindruck. Die Felder reichen bis zum Ufer. Wir fliegen von Norden her auf die Wasserfläche hinaus, die viel langgestreckter scheint als auf den Landkarten. Erst nach mehr als einer Stunde kommt die georgische Küste in Sicht: Kolchis. Ich habe so lang in New York auf diesen Moment hingearbeitet. Jetzt ist er mir fast ein bisschen unheimlich. Sehr grüne Tiefebene. Braunes Flusswasser strömt fächerformig in die grünblaue See aus. Dampfer. Eine geplante, fächerförmig vom Ufer ins Land sich ausbreitende Stadt: Poti. Sümpfe. Extremes Grün. Obstplantagen. Eindruck eines riesigen Gartens. Häuser am Abhang der Berge rechts. Als liege die slowakische Weinstraße am Meer. Wenige Dörfer unterbrechen das sich ununterbrochen erstreckende Grün. Eine dichte Wolkendecke weiter landeinwärts.
18.15 Uhr
Auf dem Balkon des Hotels. Ein Löwenbräu, die Stadt unter mir liegt nach einem Regenschauer im Abendlicht. Eine Frau lackiert sich die Fußnägel auf dem Balkon unter meinem, dicke Männer reparieren ein Dach weiter unten in der Schlucht vor mir, die Stadt zieht sich orientalisch verwinkelt bis an den Horizont tief im Flusstal. Sehr grün, milde, warme Luft. Das Verwinkelte. Das Mediterrane. Das Sowjetische. Das Orientalische. Das neunzehnte Jahrhundert. Der Jugendstil. Das Heruntergewirtschaftete. Das allgegenwärtige Bauen und Renovieren. Avantgardistisch geschwungene Glasarchitekturen imponierten auf dem Weg vom Flughafen hierher: eine Brücke, das Innenministerium. Später am Abend, nach einem Gang in die durch Armut, Autoverkehr, Dreck und schließlich noch weitere Regengüsse etwas verdüsterte Stadt: la frousse again. Ich hätte nach Bratislava gehen sollen, sei inkontinent, werde mich im Hotel mit Bettwanzen anstecken, das volle Programm.
Das Morgenrot über den Bergen weckt mich. Jetzt auf der Terrasse beim Frühstück. Die mittelmeerisch anmutende Sonne macht alles schön, ich lese die Bismarck-Biographie (wie damals in den ersten Tagen in Krakau, bewusste Anknüpfung beidesmal an etwas Väterlich-Großväterliches, das mich in der Fremde halten soll). Ich denke: hier ist es so wie in meinen Träumen vom Jenseits, die manchmal auftauchen. Oder jedenfalls wie in Italien oder sonstwo am Mittelmeer. Die Vögel singen. Urlaubsstimmung. Ich denke (weiß plötzlich): hier werde ich glücklich sein.