10.5.
Im Nationalmuseum Seoul, nachdem ich dem Chef mühsam zwei Urlaubstage vor dem hier in Korea stattfindenden Fortbildungsseminar abgerungen habe. Zwei Versionen Buddhas: ein seelenlos ornamentales, insekten- oder alienhaft schematisches Gesicht und das süßeste, menschlichste ihm direkt gegenüber, vor dem ich heute lange stand, in kulturreligiöse Andacht versunken: als sich hinter mir ein japanischer Salary-man in seidenem Geschäftsanzug, italianoiden Slippern zu weißen Socken bemerkbar machte, jene Slipper auszog, sich auf den Boden kniete und die Stirn dreimal anbetend auf den Boden neigte (zwischen den Kotaus nochmal aufstehend). Danach versuchte ich, auf den Resten jener konfuzianischen Gentleman-Ideal-Schriftrollen das eine oder andere zu entziffern und glaubte auch tatsächlich, einige moderne Kanjis wiederzuerkennen. Ich verlor mich kontemplierend in sich ungeheuer auftürmenden Berglandschaften, in denen die winzigen, irgendwie drolligen Gelehrten herumstehen, deren gelehrtenasketische Auffassungen alle kulturellen Hervorbringungen in diesem subkontinentweit ausgedehnten Kulturraum hier durchdringen. Die Schriftzeichen als Kurzschrift lebenserhaltender Rituale (Marcel Granet). Gelehrter Alkoholkonsum in Frühlingslandschaften. Überhaupt sind die Gelehrtengentlemen oft bis zur Besinnungslosigkeit betrunken und stolz darauf. Gelehrtenzusammenkünfte mit Alkoholkonsum und Wettstreit im Gedichtemachen, Drolligsein, Over-the-Top-Gehen: die ewigen Mittagesssen des Chefs mit japanischen Machtmenschen sind ihr letztes Echo. Das Würdig-und-zugleich-komisch-merkwürdig-clownshaft-Sein in der Selbstinszenierung alter japanischer Professoren und auch politischer Machtmänner. Heilige Narren. Auch ihre demonstrativ zur Schau gestellte fachliche Inkompetenz: “The gentleman is no vessel” (Konfuzius).
Dann gehe ich im koreanischen Königspalast spazieren, eigentlich eher einem parkartigen Areal mit Pavillions, Tempeln, Wandelgängen, Platformen zur Naturbetrachtung etc. Die japanischen Besatzer machten aus dieser Macht- und Andachtslandschaft der koreanischen Könige barbarischerweise einen Zoo. Und knallten den (irgendwie stalinistisch wirkenden) art-deco-Gouverneurspalast, der heute als Nationalmuseum dient, mitten hinein. Er unterbrach die Sichtachsen vom Königspalast zur Stadt und degradierte ihn zum Hinterhof des Okkupationsgebäudes. Das unendlich Schäbige der japanischen Kolonialherrschaft, die (wie die deutsche Okkupation Osteuropas) ein kultureller Genozid sein wollte. Sie hatte nicht das Moment gegenseitiger Faszination, Anerkennung, sogar irgendwie Liebe, das zwischen den indischen und den britischen Oberschichten herrschte (die Liebesgeschichte zwischen Nehru und Lady Mountbatten). Auch heute trampeln die japanischen Touristen in Horden hier durch, als hätten sie Korea gepachtet, werfen einen flüchtigen Blick auf die Silla-Goldkronen (von der Kultur der koreanischen Silla-Könige sind die japanischen Kaiserinsignien abgeleitet und auch alles mögliche andere, u.a. die monumentalen Buddha-Statuen wie diejenigen in Kamakura und in Nara).
Am Samstag wieder im Museum. Diese Notizen im Café in der großen Zentralhalle. Lese Eliades Buch über Schamanismus. Denn etwas Sibirisch-Mongolisches ist hier zu spüren, der Kultureinfluss der Kältesteppe (auch in den Kronen der Silla-Könige, die eigentlich Schamanen waren), und das interessiert mich.
Dann in die Stadt. Durch Marktgassen, wo das Delhi/China-Gefühl stark ist, das Dorfgewühl, die undifferenzierten Flächen und Räume. Zum Kauf ausgelegte Schweineköpfe und füße, die halbtoten Aale und Fische in Plastikbottichen, der Staub, der Duft/der Gestank, das Geschrei, die sich drängenden Menschen. Dann durch einen Park und über eine Brücke: Studentendemonstrationen. Sie sitzen auf der Fahrbahn, schütteln die geballten Fäuste und erregen sich durch chorisches Gebrüll. Korea scheint eh das Land des Chorgeschreis. Schon morgends sah ich – um 6 Uhr! – auf der Straße eine solche Disziplinierungs und Selbsterregungskohorte im Laufschritt in die Morgensonne joggen und Parolen rufen. Dann die Paratroopers, die die gesamte Stadt belagern, junge Leute mit offenen Gesichtern, schweren grauen Metallschilden, Schlagstöcken, Gewehren mit aufgeschraubten Gaspatronen, dicken grauen Overalls, grünen Kugelschutzwesten, Spraydosen mit Nahkampfgas, Galoschen, schwarzgewichsten Stiefeln – einer ruft mir zu: “Take care, hey”, als er sieht, wie ich beobachtend in ihrer Nähe herumlungere. Sie beziehen Bereitstellungsräume in Parks des Bankenviertels. Eine unbestimmt ziellose Atmosphäre der Erregtheit und Gewaltbereitschaft baut sich auf. Geschäftsleute lassen schwere Metallgitter vor ihren Schaufenstern herunter. Eine elegante office lady stöckelt hindurch, auf dünnen, hohen Stelzen. Meldegänger machen sich wichtig. Einige Einheiten tragen eine Art Halbzivil, mit einheitlichen Jeansjacken als dem einzigen uniformierenden Kleidungsstück. Alle sind sehr jung, alle lachen freundlich. Studentisch aussehende junge Leute werden höflich gefilzt. Die Studenten haben sich am Bahnhof verschanzt, wo sie sich als durch Einpeitscher aufgestachelte Selbsterregungsmeuten unter Dampf halten, Parolen rufend und die Fäuste fliegen lassend. Zwischen zwei glas- und aluminiumstarrenden Hochhäusern gehe ich durch eine völlig indisch anmutende Gasse davon, wo in dunklen Sweatshops offenbar Maschinenbau betrieben wird: Schwärze, Öl, Ruß, Gewimmel, halb unterirdische Werkstätten, Metallspäne, Feuer, Schweißfunken. Peking-Seoul-Tokyo lauten die Stationen auf der ostasiatischen Modernisierungszeitreise. Abends, sehr erschöpft durch meinen Stadtspaziergang, noch in einem für Buddhas Geburtstag mit unzähligen bunten Laternen geschmückten Tempel, CNN im Hotel, sofort eingeschlafen.
7.7.
In Taipeh. Bei einem Bier erhole ich mich von der teils depressiven, teils infektiösen Verstimmung, die mich nach zuviel Arbeit, zu vielen Menschen, zuviel Alkohol, Stress und zu wenig Schlaf in der letzten Tokyo-Zeit hier in Taiwan befallen hat.
Der vorherrschende architektonisch-stadtlandschaftliche Eindruck ist auch hier – wie in Peking, Shanghai, Seoul – geprägt durch das Heraustreten der Moderne aus der Favela. Die wird durch den technischen Fortschritt langsam ausgehöhlt. Erst steht ein Fernseher in der Hütte, dann ein Faxgerät, dann wird modische Kleidung angeschafft, Abende in teuren Restaurants werden möglich, zu denen man mit einem neuen Mittelklassewagen fährt, erst ganz am Schluss werden die Wände der Hütte auf dem ursprünglichen Grundriss modern neu errichtet. Sehr tropisches Klima. Laubenhäuser wie in Peking, in deren Hof sehr neue und viel zu große Autos stehen. Ekelerregende Suppen und Reisgerichte, die sich Menschen in Anzügen und Businesskostümen am Straßenrand schmecken lassen. Bombay ist so nah wie Tokyo, Taipeh steht in der Mitte. Stark überbewertete Währung: mein Bier kostete umgerechnet 10 Mark. Wasserbüffel im Straßenverkehr. Sehr schlechtes und lautes Zimmer. Sehr hübsche Frauen. X. geht mir im Kopf herum. Jetzt gehe ich in mein Lärmzimmer und lege mir ein Kissen auf den Kopf. Morgen also das Nationale Palastmuseum, der chinesische Louvre.
8.7.
Dort geht es mir – nach gut, aber laut verschlafener Nacht – schon erheblich besser. Extrem seltsame Atmosphäre in diesem Museum. Die unglaublichen Kunstschätze, von denen das gigantische Gebäude immer nur 5 Prozent zeigen kann, sind in eine Mischung aus Tschiang-Kai-Tschek-Gedenkhalle und nationalem Wachsfigurenkabinett integriert: den Kalligraphien eines Mandschu-Kaisers ist eine Wachsfigur ihres Schöpfers beigesellt, überall hängen Portraits des Staatsgründers. Dichter Dschungel auf den Hügeln um das etwas außerhalb gelegene Kitschgebäude, über dem eine unvorstellbare Hitze brütet. Schöne und lebhafte Chinesinnen, gegenüber denen die Japanerinnen wie eingeschüchterte Roboter wirken: flirty, laut, outspoken, menschlich. Die Sammlung ist die größte und qualitätsvollste der Welt. Die Kuomintang hat praktisch die gesamten Pekinger Sammlungen auf ihrem Rückzug vor der Volksbefreiungsarmee hierher mitgenommen. Ich halte mich lang bei den Orakelknochen auf und gehe jetzt, nach einem Kaffee, in den Flügel über die Sung-Dynastie (ein Herrschergrab, in dem 160 Menschen geopfert worden sind, der Grundriss bildet ein Schriftzeichen).
“The sage yearns to match the heavens, while the virtuous man yearns to rival the sage.”
Die KP Chinas wird sich in eine Kapitalistenkaste verwandeln. Dann wird Kapitalisierung auch die “marxistisch-leninistischen” Kastenbeschränkungen auflösen. Alles Stehende und Ständische verdampft.
Ich gehe ein paar Schritte in den Dschungel hinter dem Museum hinein. Riesige Wurzeln und Blätter, mangrovenartig herabhängende Schlingpflanzenbärte, Schmetterlinge. Grillengedröhn. Kung-Fu-Schreie und Kampfgeräusche aus einer Art Turnhalle weiter oben am Hang. Unsere Zimmerpflanzen wachsen hier wild.
9.7.
Der zweite Tag im Palastmuseum. Ein Rollbild zeigt einen düsteren Herbstnachmittag aus dem dreizehnten Jahrhundert. Ich phantasiere, dass ich in dieser bergigen Weltlandschaft, zusammen mit meinem ungeborenen Sohn, seit unvordenklichen Zeiten unterwegs bin. Die Herberge im Mittelgrund. Ich werde sie früher erreichen als A. Gedanke: Kreativität (gleich welcher Art) in A. nicht fördern, sondern möglichst wenig abtöten. Das ist das Maximum, das Erziehung erreichen kann. Dann sitze ich unterhalb des Palastmuseums in einer Art open-air-bar und lese “The Rage” von Stephen King. Chinesen fischen Krebse in einem Teich in der Entfernung. Ich lasse den brüllend heißen Nachmittag über zwei chinesischen Bieren mit dem Buch im Schatten an mir vorüberziehen. Das Lächeln der jungen Barkeeperin. Kinder, glaube ich, haben die natürliche Begabung, die Schönheit der Welt in jedem Augenblick zu sehen. Erziehung besteht darin, dieses Erstgeburtsrecht möglichst wenig zu verkorksen, die Ordnung der Welt in ihnen zu verankern, ohne sie zu versteinern.
10.7.
Hongkong ist ein extrem starker Eindruck und erinnert, durch die Hybridisierung des Britischen mit einer ganz fremden Kultur, an Bombay. Gutes Hotel, problemlose, billige Busfahrt vom Flughafen, dieselbe Typographie der öffentlichen Schilder wie in London. Die Skyline, die Bucht, die Schiffe. Ich frühstücke im Hotel und gehe gleich los. Der Bank of China Tower von Ieoh Ming Pei. Das Gebäude der Hongkong and China Bank von Norman Foster. Die neugotische anglikanische Kirche weiter oben am Steilhang, die freiliegenden Baumwurzeln, die Staffel mit den großen Kugelpfosten. Der Platz, auf dem sich die philippinischen Dienstmädchen treffen (J. erzählte davon). Denke, während ich mich in einer Buchhandlung umsehe: der mir von Rutschky so dringend empfohlene David Lodge ist nichts für mich. Längst bekannte Muster und Erzählstrategien, die er clever (“postmodern”) verkompliziert. Das geht an keine Grenzen. Kluges Kunstgewerbe. I hate cleverness in art (meine Anti-Rutschky//pro Müller/Berger/Szeiler-Intuition). Cleverness ist nur als Gesellschaftskomödie zu ertragen, bei Billy Wilder zum Beispiel. Da müssen dann aber auch Cary Grant und Audrey Hepburn mitspielen. Mindestens!
Dann durch Märkte in schmalen Gassen. Sehr schockierende öffentliche Grausamkeit an den hier verkauften Tieren. Sie erleben hier ihre Hölle. Frisch aufgeschnittenen Fischstücken klopft das Herz noch, als eine kleine saubere rote Blase. Als ich die Gasse wieder herunterkomme, pulsiert es schon viel schwächer. Eimer voller blutender, stinkender Aale. Käfige voller schwarzer Frösche, die herausgenommen und gewogen werden, bevor sie auf einem Holzblock gehäutet werden (kein Blut fließt; die Haut ist außen grauschwarz und innen weiß). Die gehäuteten Frösche werden, noch zuckend, in eine Plastiktüte gepackt, ein kleiner Junge trägt sie davon. Die Dinge, die man Krebsen antut. Ich nehme entsetzt Reißaus. Die Kopfschwarten von Schweinen in großen Bottichen. Halblebende Tiere zu essen ist eben auch eine Frischhaltemethode, mit der jeder, der schon mal eine Fischvergiftung hatte, spontan sympathisiert. Man versteht, wie man Buddhist oder Vegetarier werden kann.
Herrliche Dampfer.
Die Favela ist hier vertikal, ein Hochhaus. Die Vorgärten haben sich in Balkone verwandelt, wo die schönsten tropischen Blumen wachsen. Die Menschen arbeiten permanent, unter allen Umständen, mit jederlei Werkzeug, in ihren Wohnhütten, mitten im Müll, auf dem Bürgersteig. Unentwegtes Handeln, Einkaufen, Reparieren, Schlachten, Herstellen, Rechnen, Schleppen, Schieben. Das Orgiastische des asiatischen Wirtschaftslebens.