Aus der Quantenmechanik und Fraktalgeometrie des Unglücks.

Ich habe mich oft gefragt, warum ich periodisch und anfallsweise diese populärwissenschaftlichen Bücher kaufe und meistens auch lese, die dem interessierten Laien versprechen, ihn in einfachen Worten mit den hirnwindungsverrenkenden Entwicklungen der höheren Mathematik, der modernen Physik oder mit dem neuesten Stand der Makro- und Mikrokosmologie bekannt zu machen. Denn ganz eingelöst werden diese Versprechen ja nie. Die (oft irritierend neckischen) Beispiele und Veranschaulichungen in diesen sich offenbar prima verkaufenden Büchern – es ist da dann von lichtschnellen Raumschiffen die Rede, in denen Uhren reisen und von dergleichen Absurditäten mehr – verfehlen ihren Zweck meistens völlig und führen nur dazu, daß man die Relativitäts- oder Stringtheorie nicht nur nicht versteht, sondern einem das alles schließlich auch als etwas seltsam Läppisches in der Erinnerung bleibt. Bis schließlich die unbegriffenen oder nicht richtig begriffenen Voraussetzungen für das Verständnis weiterer Kapitel sich so häufen, daß man die Lust verliert und zur Strafe beim nächsten Anlauf wieder über Jill und Jim lesen muß, die sich mit Lichtgeschwindigkeit voneinander entfernen und ähnlichen Unsinn. Soviel dazu. Und doch kann zumindest ich es nicht einfach bleiben lassen. Immer wieder kaufe ich mir solche Bücher oder nehme mir längst aufgegebene noch einmal vor, es ist wie eine Besessenheit. Womit wir bei der Grundintuition der hier vorliegenden Überlegungen wären. Vielleicht, so läßt sie sich zusammenfassen, steckt ja etwas ganz anderes hinter meinem fehlgeleiteten naturwissenschaftlichen Forscherdrang. Vielleicht handelt es sich in Wirklichkeit um den symptomartig verschobenen Ausdruck einer ganz anderen und mir selbst viel näheren Wissbegierde.

1894 zum Beispiel, in den letzten Jahren des mit Rüschen, Zimmerpalmen und Messinglampen überladenen Zeitalter, das nach Königin Victoria benannt ist, entdeckten zwei britische Physiker – Baron Rayleigh und Sir Jeans – daß sich elektromagnetische Strahlungsquellen sehr eigenartig verhalten. Die beiden Forscher und Gentlemen wiesen nach, daß langwellige Strahlung (wie sie beispielsweise von Öfen oder von Menschen ausgeht) um so intensiver wird, je höher ihre Frequenz ansteigt. Indem nun aber aber Rayleigh, Jeans und dann auch andere Forscher mit diesem Gesetz arbeiteten und rechneten, zeigte sich immer deutlicher und unheimlicher, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Im unteren, langwelligen Spektrum, dem sogenannten Infrarotbereich entsprach das Rayleigh-Jeans’sche Strahlungsgesetz den experimentellen Befunden und der Alltagserfahrung. Die Strahlungsfrequenz eines Ofens zum Beispiel, der glüht, stößt aus dem Infrarotbereich (der ja unsichtbar ist) bereits ins Frequenzspektrum der Lichtwellen vor. Und ein rot- und schließlich weißglühender Ofen strahlt für jeden fühlbar eine intensivere Wärme ab als einer, der noch keine Lichtwellen aussendet. Soweit war auch alles noch mit der traditionellen Thermodynamik einwandfrei vereinbar.

Die moderne Physik entsteht, so scheint es zumindest einem laienhaften Leser jener populärwissenschaftlichen Bestseller, angesichts der seltsamen und fast ein wenig gespenstischen Beobachtung, dass Annahmen der traditionellen Naturwissenschaft für die (zu Beginn des Jahrhunderts ins Blickfeld der Wissenschaftler tretenden) submikroskopischen Meßeinheiten plötzlich absurde Ergebnisse liefern. Denn wendet man zum Beispiel das Strahlungsgesetz Rayleighs und Jean’s im Bereich sehr kurzwelliger Strahlen an, errechnet sich aus ihm schlechterdings, daß von ultravioletten und noch kurzwelligeren Strahlungsquellen unendliche Strahlungsenergie ausgeht (die so genannte “Ultraviolettkatastrophe”). Höhensonnen müßten, wenn Rayleigh und Jeans recht hätten, unendlich heiß sein. Was sie bekanntlich nicht sind. Die weitere Erforschung dieser und anderer Diskrepanzen zwischen Meßergebnissen im Mikrokosmos und den Gesetzen der klassischen Physik führte zur Entdeckung der Quantenmechanik durch Max Planck.

Es ist wohl kein Zufall, daß etwas so Seltsames wie die Quantenmechanik gerade von einem Forscher wie ihm entdeckt worden ist. Planck entsproß einer Gesellschaftsschicht, die seit 1933 schrittweise und 1968 schlagartig entmachtet worden ist (was vermutlich die Geburtsstunde des Pisa-Elends markiert): der ständisch geschlossenen, vielfältig miteinander verwandten und gesellschaftlich verbundenen Verdienst-Aristokratie akademischer deutscher Mandarine. Das waren Menschen, die sich wenig vormachen ließen. Noch zu Beginn der Achtziger Jahre konnte man ihre alten und dinosaurierhaft gewordenen letzten Schüler in den common rooms britischer Colleges besichtigen, wo sie ihren schweren deutschen Akzent auf Sherry-Empfängen hören ließen. Ein bißchen war der deutsche Bildungshochadel überhaupt eine kontinentale Version der britischen Whig-Aristokratie, über die Michael Foot in seinem Lebensbild Bertrand Russells treffend schrieb, hier habe es sich um Leute gehandelt “who didn’t give a damn about anybody”. Plancks Vorfahren hatten eine Dynastie von Juraprofessoren in Göttingen gebildet. Ein Onkel von ihm schrieb das Bürgerliche Gesetzbuch. Sein Sohn wiederum war bezeichnenderweise in das bekannteste und letzte der zahlreichen Attentate auf Adolf Hitler verwickelt, das am 20. Juli 1944 scheiterte. “Unsere Windsors” – Familien wie die Planck, die Mann, die von Stauffenberg oder die von dem Bussche – hatten ja generell nicht nur keine Sympathie für Hitler, sondern auch keine Skrupel, ihn umzubringen. “They didn’t give a damn about anybody”. Und für Hitler hatten sie nun mal schon gar nichts übrig. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die in diese vorliegende allerdings doch ein bißchen hineingehört. Planck, der (ebenso wie übrigens der victorianische Sir Jeans) als junger Mann ein konzertreifer Musiker war, hatte sich schon bei seiner Berufswahl (Physik statt Musik) einem Wissensgebiet zugewandt, das allen bekannten Autoritäten zufolge als akademische Disziplin so gut wie klinisch tot war – bevor es ein paar Jahre später durch Plancks Entdeckungen zur Leitwissenschaft des Jahrhunderts wurde. In der von ihm universitär vertretenen Wissenschaft sei “schon fast alles erforscht, und es gelte nur noch einige unbedeutende Lücken zu schließen” – das sagte der Münchner Physikprofessor Philipp von Jolly dem jungen Planck bei der ersten Audienz des Studienanfängers (man stellt sich unwillkürlich einen tief melancholischen und resigniert zynischen Mittfünfziger mit einem langen, wilhelminisch ungepflegten Bart vor). In der Physik sei für einen begabten jungen Mann nichts mehr zu holen. Und die Lösung, die Planck 1900 dann tatsächlich für das Problem der absurden Meßergebnisse der durch das Rayleigh-Jeans’sche Strahlungsgesetz etablierten Intensitätsformel im Ultraviolettbereich fand, konnte man eigentlich nur in den Blick nehmen, wenn einem alle etablierten Autoritäten und Lehrmeinungen herzlich egal waren.

Plank, der sich dabei, wie er später gesagt hat, “nicht viel dachte”, postulierte, daß Strahlung und andere physikalische Intensitäten keine kontinuierlich stärker oder schwächer werdenden Phänomene sind, sondern daß Energie überhaupt nur in bestimmten, wie Teilchen nicht weiter veränderlichen Einheiten, eben den berühmten Quanten, von einem Körper ausgestrahlt und von einem anderen aufgenommen werden kann. E = h x v lautet die Formel, durch die Planck berühmt und die moderne Physik begründet wurde: Die von einem Körper abgestrahlte oder aufgenommene Energie ist die Strahlungsfrequenz v malgenommen mit dem sogenannten “Planck’schen Wirkungsquantum” h, einer Art eingebauter Obergrenze für das jeweilige Strahlungsphänomen. Strahlung kommt gleichsam nur in Päckchen einer bestimmten Größe (und verhält sich insofern wie ein Partikel). „Meine vergeblichen Versuche, das Wirkungsquantum irgendwie der klassischen Theorie einzugliedern, erstreckten sich auf eine Reihe von Jahren und kosteten mich viel Arbeit“, schrieb Planck. Es brauchte ein bißchen Zeit, bis es ihm gelang “not to give a damn about anybody”: Rayleigh und Jeans zum Beispiel zu ignorieren, die ihn jahrelang ad absurdum zu führen versuchten. „Jeans’ Hartnäckigkeit ist mir unverständlich – er ist das Beispiel eines Theoretikers, wie er nicht sein soll, dasselbe, was Hegel in der Philosophie war. Um so schlimmer für die Tatsachen, wenn sie nicht stimmen.“

Die Tatsachen aber stimmten unter Zugrundelegung der Quantenmechanik jetzt plötzlich wieder mit den Meßergebnissen überein und die klassische Physik war als ein Sonderfall erkennbar, der nur für ein bestimmtes Größenspektrum von Erscheinungen gilt. Mir aber leuchtete neulich auf dem Weg zur Arbeit durch eine brüllende Durchgangsstraße der Upper East Side von Manhattan, beschäftigt mit Erinnerungen an das gestern vor dem Einschlafen noch gelesene Kapitel in “The Elegant Universe” und zugleich mit meinem sehr eigenen und hier zunächst nicht weiter interessierenden Unglück, die Quantentheorie der ultravioletten Strahlung plötzlich ein als die vollkommene Metapher meiner und wahrscheinlich aller modernen Seelen. Denn, dachte ich im quantentheoretisch-psychoanalytischen Entdeckerrausch, “irgendwas ist immer”: Wie meine Mutter zu ihrer Zeit das betreffende Grundgesetz des modernen Seelenlebens volkstümlich auszudrücken pflegte. Und meine Mutter war es auch, die sich oft und wortreich darüber wunderte, daß sie selbst, ihre Familie und ihre Bekannten die neurotischen Beschwerden, Beziehungsprobleme, Ängste, Arbeitsplatzquerelen, Süchte und Verklemmungen, die uns alle in der Gegenwart unausgesetzt plagten, im Krieg und in der Hungerzeit danach gar nicht gehabt hätten. “Wir hatten einfach keine Zeit, uns über sowas Gedanken zu machen”, sagte sie dann kopfschüttelnd über diese, in ihren Erzählungen noch in den Achtziger Jahren immer sehr lebendigen Zeiten.

Ich habe mich an jenem Morgen vor der Arbeit dann noch in eine bestimmte “Starbucks”-Filiale an der Ecke 3rd Avenue und 83. Straße an meinen Stammplatz am Fenster gesetzt und mir klar gemacht, daß der innere Haushalt moderner, also durch feststehende und metaphysisch ableitbare Gewissheiten nicht abgesicherter Zeitgenossen tatsächlich quantenmechanisch zu funktionieren scheint. Es gibt, so skizzierte ich, unerwartet früh am Morgen essayistisch hoch beschwingt, die “Wackwitz-Konstante” quantenmechanischer Psychologie, ein bestimmtes und nicht weiter veränderliches Quantum von Beängstigung, Verzweiflung, Selbstmitleid und Paranoia, das die Welt an uns abgeben und das von uns aufgenommen werden kann. Wenn es der drohende Lungenkrebs nicht ist, dann ist es die Bemerkung der Chefin von gestern. Oder die Angst davor, das Jahresbudget möglicherweise ganz falsch berechnet zu haben. Und wenn es nicht der verlorene Geldbeutel ist, dann bestimmt die Verzweiflung darüber, daß man nicht sicher sein kann, daß Gott existiert. Undsoweiter.

Inzwischen sah ich über einem grauenvollen Starbucks-Kaffee in das New Yorker Verkehrsgewühl hinaus. Das Interessante und beim Weiterdenken Verblüffende, dachte ich, besteht nun aber darin, daß diese Verzweiflungsquanten in der Moderne (bei ansteigender Frequenz der Verzweiflungs- und Angstmöglichkeiten also) sich nicht exponentiell in die von mir kurzentschlossen so genannte “Kierkegaard-Katastrophe” hineinverstärken, sondern daß Melancholie und Hypochondrie immer auf einem bestimmten, vermutlich konstitutionell bedingten Intensitätsgrad stehen bleiben. Wird das tolerable Angstquantum durch eine bestimmte Kummerquelle nicht ausgefüllt und erreicht, sucht sich unser Seelenleben verblüffend schnell eine andere: der “Mickey-Sachs-Effekt”, den ich an diesem Morgen auf dem Weg zur Arbeit über meinem Starbucks-Pappbecher flugs auch noch postulierte, benannt nach einem Nebenhelden in Woody Allens “Hannah und ihre Schwestern”, dessen metaphysische Megakrise und persönliche Ultraviolettkatastrophe genau in dem Augenblick ausbricht, als ihm die oberste medizinische Autorität bestätigt, daß er eben keinen Gehirntumor hat.

Umgekehrt lehrt einen die Selbstbeobachtung, daß plötzlich und katastrophal auftretende Kummerquanten die entsprechenden psychischen Aufnahmekapazitäten so völlig in Anspruch nehmen können, daß sie Beunruhigungsquellen, an die man lange gewöhnt war, von einer Minute auf die andere auszublenden imstande sind. Man regt sich dann nicht mehr über den verlorenen Schlüssel und zugleich über den nicht vorhandenen Sinn des Lebens auf, sondern nur noch über den verlorenen Schlüssel. Die Sorge um den Sinn des Lebens kommt erst wieder zum Vorschein, wenn man den Schlüssel dann Gottseidank wiedergefunden hat. Das also ist der “Mickey-Sachs-Effekt”, der die quantenpsychologische “Wackwitz-Konstante” in der Psychopathologie des Alltagslebens beobachtbar und zugänglich macht. Sigmund Freud hat unter dem Titel “Die am Erfolge scheitern” in seinem Aufsatz “Einige Typen aus der analytischen Arbeit” ein ähnliches Grundgesetz psychologischer Quantenmechanik geschildert.

Aber all dies ist nur als eine Art Einleitung zu verstehen.