Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Organisationsform des Symposiums bringt es mit sich,

dass der Titel eines Vortrags Monate vor der Abfassung des Vortragstexts festgelegt werden muss.

„Authentizität” war für mich,

als die Einladung nach Tutzing kam,

die Chiffre eines Leseeindrucks,

der die Erinnerung an die Lektüre der Romane Angelika Klüssendorfs verbunden hat

mit anderen, aber ähnlichen Lektüreeindrücken, die mich zum Zeitpunkt der Einladung beschäftigten,

und die ich im Folgenden ebenfalls eine Rolle spielen lassen möchte:

das waren die Lektüren des letzten Bands der Tagebücher von Michael Rutschky,

des sehr persönlichen Buchs „The Trouble with Men” des amerikanischen Essayisten David Shields.

Und nicht zuletzt beschäftigte und beschäftigt mich noch immer der Lektüreeindruck meiner eigenen Tagebücher

die ich seit 1970 geführt habe und die ich nach dem Ende meiner Berufstätigkeit zum ersten Mal im Zusammenhang lese.

„Authentizität” ist ein schwierig auszusprechendes Wort

Aber ich muss gestehen, dass ich diese schwer auszusprechende Chiffre für die Lektüren, die heute mein Thema sind,

gleich zu Beginn meines Vortrags ersetzen könnte (und zum Teil ersetzen werde)

durch ein noch furchterregenderes begriffliches Getüm.

Ich möchte nämlich die Texte, um die es mir hier geht,

„Schwach oder unzuverlässig idealisierte Autobiographien nennen”

„Schwach oder unzuverlässig idealisierte Autobiographien.”

Was meine ich damit?

Solche Texte heben sich von Texten ab,

die stark, zielstrebig und zuverlässig auf ein bestimmtes heilsgeschichtliches, politisches oder selbstvervollkommnungsmässiges Ziel zustreben

und es, meistens an ihrem Schluss, tatsächlich erreichen,

man könnte die „Confessiones” des Augustinus als ein frühes Beispiel Beispiel solcher stark und zuverlässig idealisierter Autobiographien nennen

spätere und politische Beispiel wären die Autobiographien Leo Trotzkis oder Bismarks

organisch-persönlichkeitshistorische die Memoiren Goethes oder Carl Gustav Jungs.

Schon in der Goethezeit tauchen jedoch im Gegensatz zu diesen stark und zuverlässig idealisierten Autobiographien

die schwach oder unzuverlässig idealisierten auf.

Ihr Klassiker ist der als Roman ja nur verkleidete autobiographische Bericht „Anton Reiser” von Karl Philipp Moritz.

An diesem heute sehr bedauerlicherweise fast vergessenen Buch

kann man unter anderem die verschiedenen Quellen unorthodoxer oder unzuverlässiger Idealisierung studieren

die ab jetzt in die Autobiographie eindringen.

Da sind zunächst die Erfahrungen und Lebenswelten nicht-adliger und nicht-bürgerlicher Schichten

die seit etwa 1770,

also in der Zeit, die wir literaturgeschichtlich als Sturm und Drang bezeichnen,

in der Literaturgeschichte auftauchen.

Neben dem „Anton Reiser” erscheinen in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts

weitere plebeiische Autobiographien

- etwas literaturgeschichtlich völlig Neues:

zum Beispiel die Autobiographie des Schweizer Kleinbauern Ulrich Bräker,

oder die Lebenserinnerungen des Schneidersohns Johann Heinrich Jung-Stilling,

deren ersten Band Goethe zum Druck gebracht hat.

Hier erfahren wir zum ersten Mal in der deutschen Literatur aus erster Hand

wie sich plebeiische, frühproletarische oder bäuerliche Menschen gefühlt haben,

und die Seltsamkeit ihrer wirklichen Gedanken durchschlägt gleichsam

die kirchlich festgelegten Idealisierungen der demütig-arbeitsamen Gottes- und Landeskindschaft,

die ihnen in der Predigtliteratur ihrer Zeit zugedacht worden waren.

Idealisierungen, in die sie lange gleichsam eingesperrt waren.

Jetzt erfahren wir, was sie selber fühlten – und dass sie ganz anders gewesen sind,

als ihre ideologischen und politischen Chefs geglaubt haben -

eine Erfahrung, die man mit Angelika Klüssendorfs Romanen

in verblüffend ähnlicher Weise machen kann.

Die zweite Quelle unorthodoxer Lebenserfahrungen und Idealisierungsformen ist die pietistische Selbsterforschung.

Sie legte geradezu Wert auf die genaue Beschreibung sündiger,

also schambesetzter,

Handlungen und Gedanken,

die zwar gebüßt und überwunden werden sollten,

dafür aber überhaupt erst einmal bewusst gemacht und exakt beschrieben werden mussten.

Die soziale und die religiöse Heterodoxie brachten als dritte Quelle unzuverlässiger und schwacher Idealisierung

die ebenfalls durch Karl Phillip Moritz begründete wissenschaftlich-psychologische Introspektion hervor,

durch welche verschwiegene, abwegige, peinliche Erfahrungen zum Thema der Literatur werden konnten,

wie zum Beispiel Anton Reisers Grössenwahn, David Shield’s Masochismus,

Michael Rutschkys Bisexualität oder „Aprils” depressive Selbstsabotage bei Angelika Klüssendorf.

Abgewehrte, aus der öffentlichen,

und deshalb idealisierten,

Selbstdarstellung einer Person ausgeschiedene Persönlichkeitsanteile

- Grössenwahn, geheime sexuelle Phantasien und Praktiken, Träume, Idiosynkrasien,

kurz: die Psychopathologie des Alltagslebens, wie der Buchtitel Sigmund Freuds lautet -

bevölkern die Literatur der Authentizität, also jene

von mir so genannten schwach oder unzuverlässig idealisierten Autobiographien.

Und – das ist meine erste These – genau diese unorthodoxen Erfahrungen machen ihren Reiz

und ihre beträchtliche Anziehungskraft aus.

Denn im Offenbarwerden und im Geständnis dieser unorthodoxen Erfahrungen

lockert sich die Idealisierung, mit der wir alle allen unseren Mitmenschen entgegentreten

und damit überhaupt erst gesellschaftlich präsentable Wesen werden.

Die Anstrengung, die wir aufwenden müssen, um diese Idealisierung aufrechtzuerhalten,

lockert sich bei der Lektüre schwach und unzuverlässig idealisierter autobiographischer Texte.

Das bringt es mit sich, dass diese Lektüre fast immer einen gewissen Sog entfaltet,

der aber paradoxerweise als ein gewissermassen sündiges Vergnügen erlebt wird.

Oft nimmt man dem Autor die Lockerung der eigenen Idealisierungsanstrengung geradezu übel,

wenn die Lektüre zu Ende ist – ein seltsames Phänomen, das mir immer wieder auffällt,

wenn ich meine eigene Lektüreerfahrung solcher Texte analysiere oder mit anderen Menschen über die ihre spreche.

Dieser Suchtcharakter der Lektüre, der zugleich als Verfehlung des Autors und des Lesers erlebt wird,

ist die sozusagen subjektive Seite dessen,

was man das Authentizitätsparadoxon nennen kann.

Mit ihr zusammen hängt eine gattungstheoretische und sozusagen psychomechanische Paradoxie

schwach oder unzuverlässig idealisierter autobiographischer Texte.

Sie besteht darin, dass von solchen Texten einerseits die beschriebene Lockerung der Idealisierung,

und die damit verbundene Indiskretion und Idiosynkrasie

vom Leser eingefordert und erwartet wird –

fehlt sie nämlich ganz, wird es langweilig, wie in manchen Politikerautobiographien.

Da reihen sich Ereignis an Ereignis und vorgefasste Meinung an vorgefasste Meinung.

Man schläft bei der Lektüre fast ein.

Zugleich aber und paradoxerweise kann gerade die vom Leser insgeheim dringend erwartete Bereitschaft

zum Begehen von Indiskretionen und zur Offenlegung von Idiosynkrasien

den Text in den Augen des Lesers entwerten.

Er oder sie fragt sich dann, wen das eigentlich interessieren soll,

dass Michael Rutschky noch im hohen Alter feuchte Träume notierte, in denen Reinald Goetz vorkam,

dass David Shields von masochistischen Phantasien zugleich beseligt und geplagt ist,

und dass das Erzählmedium in Angelika Klüssendorfs autobiographischen Romanen Depressionen hat.

Die Frage, wen das interessieren soll und warum,

ist berechtigt und genau die Frage, vor der solche Texte grundsätzlich stehen.

Oft wird diese Frage polemisch gestellt,

mit dem unausgesprochenen Unterton, dass sie sich selbst beantwortet, nämlich negativ:

das könne eben niemanden interessieren, oder allenfalls einen schlechten, sozusagen sündigen Leser,

Einen Leser oder eine Leserin mit anderen Worten,

die ihre gesellschaftsfähige Idealisierung eben selber nicht im Griff hat,

Literarische Voyeure kann es interessieren, inkompetente Leser, die zugleich schlechte Menschen sind.

Ich glaube aber, dass man die Frage nach einem nicht voyeuristischen, unsündigen Interesse

an schwach oder unzuverlässig idealisierten Autobiographien eben auch positiv beantworten kann.

Es gibt gute Gründe für die Existenz solcher Texte und es gibt gute Gründe, sie zu lesen.

Ich möchte, als Anlass für unser Gespräch nach diesem Vortrag,

drei dieser Gründe skizzieren.

Der erste und der unkomplizierteste Grund ist historiographisch.

Wir haben keine anderen geschichtlichen Quellen dafür, wie sich ein begabter plebeischer Junge zur Zeit des Sturm und Drang

tatsächlich gefühlt und was er gedacht hat, als eben nur die Authentizitätsschilderungen des „Anton Reiser”.

Wir wüssten wenig darüber, welche Armut und Verwahrlosung am Rand der Diktatur des Proletariats in der DDR herrschte,

wenn wir Angelika Klüssendorfs autobiographische Romane nicht hätten.

Kommende Historiker werden in den Tagebüchern Michael Rutschkys studieren können,

mit welchen Verdrängungsleistungen, Suchtproblemen und Depressionen

kleinbürgerliche Intellektuelle zwischen der Bonner und der Berliner Republik zu kämpfen hatten.

Und David Shields Bücher erheben sogar den Anspruch,

die Analyse der eigenen Psychopathologie dazu zu nutzen,

die Zeit zu verstehen, in der Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika geworden ist.

(Zum Beispiel in seinem Buch „Nobody hates Trump more than Trump”).

Vor dem Aufkommen der schwach oder unzuverlässig idealisierten Autobiographien

haben wir solche historischen Quellen aus erster Hand kaum,

und die, die wir haben, sind uns trotz ihrer Banalität, Selbstbezogenheit, Eitelkeit und Idiosynkrasie so kostbar,

wie die Tagebücher von Samuel Pepys.

Von dessen Lebenszeit aus müssen wir nur hundert Jahre zurückgehen,

und die authentischen Vorstellungen und Gefühle von Menschen

müssen so aufwendig mikrohistorisch aus Inquisitionsakten rekonstruiert werden,

wie Carlo Ginzburg das mit der „Welt eines Müllers um 1600” getan hat,

wie der Untertitel seines Buchs „Der Käse und die Würmer” lautet.

Indem er über den Müller Menocchio berichtet

und seine hochseltsamen kosmogonischen, theologischen und politischen Vorstellungen und Visionen.

„Die Welt eines Müllers um 1600” -

wie wertvoll wäre es uns, wenn wir das schwach oder unzuverlässig idealisierte Tagebuch

Cäsars

oder wenigstens eines seiner Offiziere hätten,

statt seiner stark und zuverlässig idealisierten Kriegstagebücher!

Die zweite Rechtfertigung des sündigen Vergnügens,

das uns schwach oder unzuverlässig idealisierte Autobiographien verschaffen können

liegt in einem inneren Vorgang, den man den „Gruppentherapie-Effekt” nennen könnte,

oder, wenn man dasselbe gebildeterweise mit einem Begriff des Aristoteles

aus seiner „Poetik” benennen möchte:

Katharsis.

Die Katharsis oder der Gruppentherapie-Effekt

bei der Lektüre authentischer autobiographischer Texte

geht hervor aus dem lesenden Mitvollzug von

eleos und phobos,

Mitleid und Furcht in Lessings Übersetzung.

Diese Gefühle erlebt der Zuschauer der antiken Tragödie und sie befreiten und reinigten das antike Publikum.

Denn Katharsis heisst Reinigung.

Mit ging es bei der Lektüre der Tagebücher Michael Rutschkys und der Romane Angelika Klüssendorfs zum Beispiel oft so,

dass ich von Mitleid überwältigt wurde und dann gleich meine eigenen Probleme, Ängste, Hypochondrien und Enttäuschungen

in der authentischen Schilderung dieser beiden Menschen gespiegelt gesehen habe.

Es hat etwas Befreiendes und tatsächlich Reinigendes,

wenn ein Mensch authentisch über Probleme spricht, die er wirklich hat,

wenn die Idealisierung fällt wie ein bemalter Theatervorhang

und den Blick freigibt auf die condition humaine,

die meistens ziemlich wenig ideal ist.

Diese Katharsis gibt uns den Mut, uns unseren eigenen Problemen zu stellen,

und etwas für uns selber zu tun.

Aus diesem Grund wirken Tragödien und Gruppentherapien innerlich befreiend.

Und die befreiende Wirkung der Katharsis ist, glaube ich, die zweite Ursache

für den eigentümlichen Sog, den schwach idealisierte Autobiographien auslösen.

Der dritte Vorzug authentischer autobiographischer Literatur ist vielleicht am schwersten zu fassen.

Es handelt sich um ein fast mystisches Phänomen.

Ich will es zu beschreiben versuchen,

indem ich von meinen Erfahrungen bei der Lektüre meiner eigenen Tagebücher berichte.

Ich habe im Herbst 1969, mit siebzehn,

angefangen systematisch Tagebuch zu schreiben

und seither nicht mehr damit aufgehört.

Das seither entstandene Textkonvolut – eigentlich ist es ein Textgebirge –

lese ich in diesen Monaten zum ersten Mal chronologisch durch.

Und ich muss gestehen, dass ich es seither für mein Hauptwerk halte.

Wichtiger als alle meine anderen Bücher.

Von denen es sich allerdings durch einen entscheidenden Umstand unterscheidet,

dadurch nämlich, dass dieses monumentale Hauptwerk

sein spezifisches Gewicht nur für einen einzigen Leser entfaltet, nämlich für mich.

Es enthält Träume, die ich in den siebziger Jahren aufgeschrieben habe

und deren Bedeutung mir erst heute aufgeht.

Und andere Flaschenpost aus meiner Vergangenheit:

Liebesgeschichten, die ich vergessen hatte und in denen mir jetzt erst

- am Ende des siebten Lebensjahrzehnts –

beschlossen zu sein scheint, was das Glück war oder hätte sein können.

Nur für mich haben diese Notizen diese Bedeutung.

Nur mir fliesst aus ihnen eine Kraft aus meiner Vergangenheit zu,

die mich heute stark macht – ein überwältigendes Lektüreerlebnis.

Die Kraft authentischer Tagebücher jedoch

- das ist meine dritte und letzte These –

ist so stark, dass sie auch unbeteiligte Leser involviert.

Man spürt bei der Lektüre der Tagebücher Ernst Jüngers oder Michael Rutschkys,

dass hier die Gegenwart eines Menschen Anschluss an seine Vergangenheit erhält.

Und durch die magische Wirklung, die authentische Literatur hat,

nehmen wir als Leser, unwillkürlich

und oft genug ohne es zu wollen,

manchmal sogar widerwillig

an diesem Rendezvous zwischen Gegenwart und Vergangenheit eines fremden Lebens teil.

Auch in Angelika Klüssendorfs Büchern findet dieser magische Kurzschluss zwischen Vergangenheit und Gegenwart statt.

Sie sind überhaupt ein gutes Beispiel für alle drei Eigenschaften authentischen autobiographischen Schreibens,

über die ich hier gesprochen habe: den historischen, den kathartischen und den magischen.

Das Authentizitäts-Paradox ist in den drei autobiographischen Büchern Klüssendorfs überall deutlich spürbar.

Man nimmt wahr, dass die Autorin sich dieses Paradoxons bewusst war.

Es hat seine Spuren in diesen Romanen hinterlassen.

Und die Romane sind die Bewegungsform dieses Paradoxons.

Sie bringen diese Paradoxa in Bewegung und seitenlang sogar zum Tanzen.

Mehr, glaube ich, kann authentisches autobiographisches Schreiben nicht erreichen.

Ich hoffe, dass meine Bemerkungen genug Stoff für ein Gespräch ergeben haben

und breche an dieser Stelle vorerst ab.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.