Bewegende Bilder, schockierende Augenzeugenberichte, Solidaritätsaufrufe. Entschlossene, besonnene, von ihrem plötzlichen Mut selbst überraschte Menschenmassen in Belarus. Eine andere Zeit (der Herbst 1989) scheint in die Gegenwart eingebrochen. Die selbstzufriedenen westlichen Politikbeoachter sind überrascht, geradezu schockiert. Ausgerechnet Belarus? Wo liegt das überhaupt? Als ich im Frühling 2018 mit deutschen Freunden, deren Vorliebe für abenteuerlich ausgefallene Reiseziele im Bekanntenkreis notorisch ist, von meinem damaligen Wohnort Minsk aus zu einer vierzehntägigen Autoreise zwischen Witebsk, Gomel, Pinsk und Brest aufbrach, erreichten uns aus Deutschland Whats-App-Nachrichten, die ironisch der Vermutung Ausdruck gaben, dass wir jetzt ja wohl endgültig verrückt geworden seien. Ob wir demnächst auch Nordkorea bereisen wollten? Wir flachsten elektronisch zurück während einer Paddeltour durch die Pripjet-Sümpfe. Es herrschte lückenlose Internetabdeckung in einem der einsamsten Landstriche Europas. Wir fuhren auf perfekt ausgebauten Strassen dahin, fanden überall ohne Voranmeldung komfortable Hotels und bewunderten die nach der sowjetischen Zerstörung wiederaufgebauten Kathedralen von Witebsk (die Skyline aus Chagalls Gemälden ist neu erstanden). Wir durchwanderten die exquisit renovierten und touristisch erschlossenen Schlösser in Gomel, Mir und Njaswisch, assen hervorragend im “Cafe de Paris” in Minsk und verbrachten die späteren Abende in den Bars und Bistros der Minsker Innenstadt. Sie liegen in Strassen, die nach Lenin, Engels und Dserschinski benannt sind – aber wir begegneten dort modernen, freundlichen, zugewandt-interessierten und auffallend stilvollen jungen Menschen. Sie hatten in Vilnius, New York oder Boston studiert, vorzugsweise Mathematik und Informatik. Wer weiss schon, dass Belarus einer der weltweit erfolgreichsten IT-Standorte ist? Das Geheimnis dieses unbekannten und unterschätzten Landes liegt darin, dass dort eine junge, bestens ausgebildete, skandalös unterbezahlte und politisch mundtot gemachte Mittelschicht von einem Staatsapparat regiert wird, der die Mentalitäten der Breshnew-Ära in die globalisierte Moderne verlängert hat. Der Kontrast war während meines Minsker Arbeitsaufenthalts fast surrealistisch: Einerseits der öffentlich meist unsichtbare Despot in seinem martialisch gesicherten Palast – architektonisch irgendwo angesiedelt zwischen saudiarabischer Moderne, Versailles und Ceausescus Bukarester “Haus des Volkes”. Und andererseits die interessanten, bescheidenen, für ihre Jobs und Salärs überqualifizierten Menschen, mit denen ich dort zu tun hatte. Ganze Strassenzüge weit sind in Minsk aufgelassene Fabriken verwandelt worden in co-working-spaces, Galerien, Cafés und Musikveranstaltungsorte. In einem dieser Klubs unterhielt ich mich eines Nachts mit einer Dame, die vermutlich Mitte Zwanzig war. Ihr Kopf war auf einer Seite kahlgeschoren. Auf der anderen Seite wallte hüftlang eine neonblau gefärbte Mähne und als ich sie fragte, was sie beruflich so mache, versetzte sie cool und fast wegwerfend, sie stehe als Abteilungsleiterin dem Entwicklungs-Think-Tank einer Softwarefirma vor. Das, dachte ich damals sofort, ist die Lage in Belarus. Innenpolitisch lässt sich das Land am genauesten beschreiben mit einem von dem australischen Politologen John Keane ausgearbeiteten Begriff: als eine “Neue Despotie”. Die “Neuen Despotien” haben – vom Westen weitgehend ignoriert und fehlinterpretiert – eine explosiv dynamische Wachstumsregion zwischen China, Russland, Aserbeidschan, Saudi-Arabien, Kasachstan und Belarus etabliert. Sie ist das Zentrum eines nicht-okzidentalen Wirtschaftswunders. Auf dem Minsker Flughafen werden An- und Abflüge nicht nur auf Russisch und Englisch angezeigt, sondern auch auf Chinesisch. Chinesische Konzerne haben zwanzig Autominuten entfernt auf der grünen Wiese einen hochmodernen Wohn-, Produktions-, Kongress-, Messe- und Bürokomplex errichtet, eine chinesisch-belorussische Stadt zwischen Wäldern und Kolchosenfeldern. Modernste IT-Entwicklung koexistiert mit Fünfjahresplänen und Staatsbetrieben, die nicht anders funktionieren als 1985. Die für dieses paradoxe Entwicklungsmodell notwendigen Mittelklassen sind hervorragend ausgebildet. Die “Neuen Despotien” bieten ihnen kulturell, ideologisch, konsumistisch weitgehende Freiheiten. Und doch ist ein Unsicherheits- und Kippmoment in diese Entwicklungsdiktaturen eingebaut, das einen an die klassische marxistische Analyse des französischen Bonapartismus im neunzehnten Jahrhundert denken lässt: “Bonaparte als die verselbständigte Macht der Exekutive fühlt seinen Beruf, die ‘bürgerliche Ordnung’ sicherzustellen. Aber die Stärke dieser bürgerlichen Ordnung ist die Mittelklasse. (…) Er ist jedoch nur dadurch etwas, dass er die politische Macht dieser Mittelklasse gebrochen hat und täglich von neuem bricht. (…) Aber indem er ihre materielle Macht beschützt, erzeugt er von neuem ihre politische Macht.” (Karl Marx im “18. Brumaire des Louis Bonaparte”). Außenpolitisch dagegen praktiziert Lukashenkas Staatsapparat ein Spiel, das der amerikanische Sicherheitsexperte Nikolas Gvosdev witzig und treffend als den “Eurasian Shuffel” bezeichnet hat. Es ist die rhetorische Schaukelpolitik zwischen Annäherung an die EU und Angst vor jenen “Farbenrevolutionen”, für die neue Despotien aufgrund ihrer immanenten Instabilität sehr anfällig sind. Lukashenkas politische Angebote in Richtung EU sind bekannt. Er weigerte sich zum Beispiel, die russische Annexion der Krim völkerrechtlich gutzuheissen. Seine EU-Orientierung zeigte sich während meiner Minsker Zeit aber auch in einer erstaunlich weitgehenden Bereitschaft, in kulturellen Fragen lange Leine zu lassen. Als Leiter des Minsker Goethe-Instituts habe ich keinerlei Eingriffe, Zensurmassnahmen oder Ähnliches beobachten können. Und während frühere Kolleginnen und Kollegen berichten, dass der Geheimdienst unter anderem immer wieder demonstrativ in ihre Wohnungen einbrach, zeigte man mir nur einmal die Instrumente, als eine meiner Vorgängerinnen mich anrief. Da brach das Gespräch plötzlich ab und eine Aufnahme dessen, was wir einige Minuten zuvor gesagt hatten, wurde mir vorgespielt. Die Minsker Zentrale des KGB (wie der Geheimdienst dort allen Ernstes heute noch heisst) liegt am zentralen Unabhängigkeitsboulevard, ein wunderschönes Portiko-Gebäude des stalinistischen Klassizismus, ein Palladio-Pastiche. Dahinter liegt eine Tapas-Bar, wo ich mit Partnern und Gästen nach Veranstaltungen einzukehren pflegte. Von Tischen auf dem Bürgersteig sah man, wenn man die Blickrichtung ein bisschen änderte, die hohe, stacheldrahtbewehrte Mauer des Gefängnisses, das sich hinter der architektonisch berückenden KGB-Strassenfassade erstreckt. Terror und Traum. Dort, dachte ich damals, wohnt das Monster der Vergangenheit, und es liegt im Sterben. Heute ist klar, dass es nur geschlafen hatte. Lukashenka hat sich entschieden, die politischen Ansprüche der jungen Mittelklasse, die er in den letzten Jahrzehnten selber erzeugt hat, mithilfe seines intakten postsowjetischen Apparats zunichte zu machen. “Nur noch die Gesellschaft vom 10. Dezember kann die bürgerliche Gesellschaft retten! Nur noch der Diebstahl das Eigentum, der Meineid die Religion, das Bastardtum die Familie, die Unordnung die Ordnung” (nocheinmal Karl Marx im “18. Brumaire”). Aber man muss nur Facebook befragen, um zu wissen, dass die belorussische Mittelklasse nicht mehr von Lukaschenka regiert werden will. Die offene Frage ist, ob er sie weiter regieren kann und diese Frage wird eher in Moskau entschieden als in Minsk. Ich aber gehe in diesen Herbsttagen in meiner Erinnerung an die schönen Strassen und Parks von Minsk spazieren (die jetzt voller Menschen, Blumen, Spezialkräfte, Lichterketten, selbstgemalter Transparente und Fahnen sind). Ich drücke ihnen in Hoffnung und Angst die Daumen: Natascha und Olga, Ludmilla und Oksana, Wassily und Sascha. Sie sind mir jetzt viel näher als all die aufgeklärten Bekannten und wohlinformierten Kommentatoren, denen sie so lang egal gewesen sind.