Buchcover: von Stephan Wackwitz

Don’t Be Sadder Than Necessary
#1

Am Abend des 26. Februar 1990 wurde bekannt, dass die sandinistische Regierung in Nicaragua als Resultat feier, geheimer und international überwachter Wahlen die Staatsmacht verloren hatte. Ich war 38. Dass sich die Bevölkerung Nicaraguas mit absoluter Mehrheit gegen den Sozialismus entschied – nachdem er in Osteuropa und der DDR bereits Monate zuvor zusammengebrochen war –, bedeutete für mich das unwiderrufliche Ende einer politischen Illusion, die ein Jahrzehnt lang mein inneres Leben bestimmt und der ich als Mitglied des MSB Spartakus Jahre meines Jungerwachsenenlebens geopfert hatte. „Du musst John anrufen,“ sagte meine Frau. Der linke britische Kunstkritiker, Romancier und Essayist John Berger, den ich 1985 kennengelernt hatte, war damals literarisch, politisch und menschlich die ultimative Instanz für mich. Ich wählte in meinem winzigen Frankfurter Bibliothekszimmer die Nummer eines Anschlusses in der Hochweidezone der französischen Alpen, wo Berger damals lebte. Ich weiß nicht mehr, was wir an jenem Abend miteinander besprochen haben, aber zwei oder drei Tage später kam ein Brief von ihm, der ein einziges weißes Blatt enthielt, auf das er mit blauem Filzstift geschrieben hatte: „Don’t be sadder than necessary“, und weiter unten rechts das Wort „Crocus“. Obwohl dieses Blatt Papier von dem Moment an, in dem ich es aus dem Umschlag genommen und auseinandergefaltet hatte, zu meinen wertvollsten Besitztümern gehörte, weiß ich heute nicht mehr, wo es abgeblieben ist. Ich muss es in eins der Bücher gelegt haben, die ich damals unentwegt mit mir herumschleppte, aber irgendwann wusste ich nicht mehr, in welches. Vielleicht ist mir John Bergers drei Jahrzehnte alte Botschaft jetzt ganz nah, während ich dies schreibe. Vielleicht steckt es in der Hälfte meiner Bibliothek, die ich 2017 in Tbilissi gelassen habe. Vielleicht wird mir dieses Blatt irgendwann zufällig entgegenfallen, wenn ich eins meiner Bücher aufschlage. Vielleicht ist es aber auch in einem der Bücher, die ich bis zu meinem Tod nicht mehr aufschlagen werde. Aber das ist egal. Denn in den dreiunddreißig Jahren seither ist dieser Satz und dieses Wort in meinem Leben und meinem Schreiben so zuverlässig und zahllos immer wieder aufgetaucht wie Krokusse im Februar aus der Erde kommen. Er ist das Motto meines Lebens und der Geheimtitel der Tagebücher, die sich seit meinem siebzehnten Lebensjahr als Bodensatz auf seinem Grund abgelagert haben.