Don't be sadder than necessary #3

11-18/12/2023
11-18/12/1989

11.12.1989
Lang nichts mehr geschrieben. Illness as metaphor: nachdem ich schon seit Tagen ein Missbehagen und schließlich scharfen Schmerz im Nabel gefühlt hatte, musste ich am 10.11. vormittags den Unterricht abbrechen. In der Nacht ist die Mauer aufgegangen; die FAZ meldet es zunächst nur ganz ungläubig-klein auf der Position des “Eckenbrüllers” links oben, das Fernsehen war gestern abend schon weiter und wir saßen bis spät vor dem Gerät. Mit dem Krankenwagen ins Brüderkrankenhaus, dort große Hektik, es sei “ein akuter Bauch” angekündigt worden: Rasieren und Desinfizieren des Unterbauchs, Umkleidung in das lächerliche Operationshemd, Entwarnung dann sozusagen in tabula: es ist nur ein Nabelbruch. “Ansonsten ist X. (der überweisende Arzt) doch ein so guter Diagnostiker”, sagt die Oberschwester. Heim im Taxi und tagelanges Warten auf einen Operationstermin. Der Schmerz, sogar das Unbehagen ist in den nächsten Tagen komplett verschwunden. Die Operation. Am Tag vorher Debatten der Volkskammer, die im Fernseher über dem Krankenhausbett verfolge. Am Morgen des Eingriffs sehr köstliche Beruhigungs- und Euphorisierungspillen. Mein Bett wird in ein Wartezimmer geschoben, von wo ich poetischerweise auf das Wolfsgehege des Zoos hinaussehen kann. Träume von der russischen Tundra, mitten in der Frankfurter Innenstadt. High as a kite. Der Doktor kommt herein, schon im vollen Operationsornat, redet (wie mir scheint) voller Sympathie mit mir und legt mir (oder war das eine Halluzination?) die Rückseite seiner Hand an die Wange. Danach zuhause. Herrliches Spätherbstwetter die ganze Zeit über. Telefongespräch mit Rutschky über die Ermordung von Alfred Herrhausen. “Wenn sich rausstellt, dass da die Stasi dahintersteckte, ist es aber aus mit dem Verständnis.”

Hyperrealistisch gewalttätiger Traum in der Nacht vom 9. zum 10. 12.
Eine tropischen Lagunenlandschaft, bleierner, apokalyptischer Himmel. Ein Contra-Führer mit tropfenförmiger Sonnenbrille, Muskeln und Rambo-Sonnenbräune bestraft einen sehr harmlos, dicklich, hilflos, versagerhaft, auch irgendwie lieb aussehenden “Verräter”, indem er ihm mit einer Zange das Auge herausreißt und ihm dann einen Griff der Zange durch die entstandene Höhle tief ins Gehirn stößt. Sie stehen im Wasser. Der (wie der Traum dann sehen lässt: schon deutlich ältere) “Verräter” hat schreckliche Angst, weint – wird aber ungerührt weiter hingerichtet. Ich wache auf und bin lange sehr bedrückt. Mir scheint, der Traumkiller besteht aus unintegrierten und unbarmherzigen Überich-Idealen, vor denen meine Realität nicht bestehen kann. Eine Zigarette am Küchentisch. Ganz allein 4 Uhr nachts. Wieder die Traumzeit inneren Experimentierens.

18.12.
Ausgerechnet am Geburtstag meiner Mutter sind ihre Krebswerte weiter gestiegen. Verzweiflung daheim und hier. Bei D.. Über das Bild, das ich für meine spätere Kindheit gefunden habe: das eines verbannten Kronprinzen an den Grenzen des Reichs, wo er bloß darüber phantasieren kann, wie paradiesisch es jetzt am Hof der mütterlichen “Dame Dichterin” wäre, wohin er aber nicht mehr kann. Am Wochenende zum ersten Mal seit der Operation wieder auf dem Rad. Lektüre von Ennio Flaiano: “Nächtliches Tagebuch”, in der Ammann-Ausgabe, beim Jugoslawen in den Niddaauen. Nach Heidelberg. Party bei G. Mit J. und G.s Sohn am Morgen im Gästebett herumgetobt. Idealisierungen fliegen in die Landschaft hinein, die jetzt ideal ist. Die Heidelberg-Romantik. Die Dresdener jubeln Helmut Kohl zu, traurig. “Deutschland, einig Vaterland”. Auch die DDR war eine Idealisierung, die nicht aufging. Zuviel nicht Idealisierbares, nicht Passendes lag herum, behauptete sich subversiv und war nicht zu integrieren. Ich bin traurig, aber ich könnte mir vorstellen, dass zum Beispiel Hans Modrow auch erleichtert ist, dass der Traum aus ist. Intellektuelle Ausgedachtheiten und narzisstische Träume konnten sich gegen die entropischen Kräfte der Wirklichkeit nicht behaupten. So, wie die Ausgedachtheiten auch in meinem Leben dauernd kaputtgehen. Es hat ja etwas Befreiendes. Die marxistische Theorie hat ihren Wirklichkeitstest endgültig nicht bestanden. OK. Dann wollen wir also schauen, was danach kommt.