Buchcover: von Stephan Wackwitz

Ein kleiner Wutanfall zu Susan Sontag

Jahrbuch Sexualitäten
2022

Die Einladung des “Jahrbuchs Sexualitäten” 2022 (Wallstein-Verlag), die große Sontag-Biographie von Benjamin Moser (Penguin) und das Sontag-Memoir von Sigrid Nunez (Aufbau) zu rezensieren, wuchs sich zu einem Ausflug in meine leibfeindliche intellektuelle Internatserziehung aus, und – an angry old man was born! Nachzulesen hier, im – überhaupt extrem studierenswerten – “Jahrbuch Sexualitäten 2022” und außerdem auf der Webseite der “Initiative Queer Nations

Unsere intellektuellen Körper

Neulich hat mir von der sexuellen Befreiung des Intellekts geträumt. Ein akademischer Lehrer, den ich seit meiner Studienzeit aufgrund seines eleganten Auftretens so intensiv bewundert habe wie für seine intellektuelle und stilistische Brillianz, erklärte mir im Traum, er habe sich (obwohl inzwischen über achtzig Jahre alt) noch einmal zu einem Studium entschlossen, er studiere jetzt Sport. Man sah es ihm an, merkte ich jetzt: sein Oberkörper war von Muskulatur geschwellt, seine Taille von Bauchansatz frei. Und der Traum gipfelte darin, dass der verwandelte Gelehrte mit einer attraktiven Frau ins Gespräch zu kommen versuchte, die es in meinem Traum dann plötzlich gab. Erfolglos, übrigens: sie wandte sich schweigend ab. Was ihn jedoch nicht aus dem Konzept zu bringen oder seine Laune zu trüben schien; gerade diese Ungerührtheit bewunderte ich im Traum am meisten. So schien es mir beim Aufwachen und Traumnotizenmachen evident, es sei kein Zufall gewesen, sondern gehe auf meine zielgerichtete Intuition zurück, dass ich als Student und überhaupt junger Mensch seinerzeit gerade von jenen – überraschend zahlreichen – “großen Brüdern und Schwester” und intellektuellen Autoritätspersonen der Achtundsechzigergeneration angezogen war, die sich theoretisch (wie zum Beispiel Peter Sloterdijk, Klaus Theweleit oder Silvia Bovenschen) mit Körperlichkeit beschäftigten oder deren Person und Werk – wie Bilder und Bücher des britischen Kunsthistorikers, Zeichners und Schriftstellers John Berger – intensive Körperpräsenz ausstrahlten.

In die Wiege gelegt wurde mir dieses Neigungsinteresse nicht. Im Gegenteil. Elternhaus und kirchliche Internatsschule hatten mir eingeschärft, körperliche Bedürfnisse, Sehnsüchte, Präsenzen, Fähigkeiten und Schönheiten an mir selbst und an anderen Menschen als etwas Minderwertiges, Nachgeordnetes, auch Lächerliches zu betrachten. Im besten Fall waren der Körper und seine Bedürfnisse und Funktionen in den Augen meiner Familie und meiner Lehrer etwas Naturgegebenes und Notwendiges, dessen Vorhandensein zwar nicht geradezu die eigene Schuld ist, dessen Belange aber diskret, schnell und sozusagen abgewandten Blicks abzuarbeiten waren. “Naturalia non sunt turpia” – natürliche Bedürfnisse seien nichts Schmutziges – war das diesbezügliche Mantra meines Großvaters gewesen, eines protestantischen Pfarrers, Förstersohnes, EK1-Trägers und NSDAP-Mitglieds, in dessen Leben Körperlichkeit zwar im Krieg und auf der Jagd eine Rolle gespielt hatte, nicht aber als sinnliches Glück – nicht als Mode, Erotik, Kulinarik, Sport, Kosmetik, Luxus. Später, auf der württembergisch-kirchlichen Internatsschule, kam ein verschwiegener Platonismus ins Spiel. Dessen leibfeindliche Tabus, Sanktionen und Verbote waren noch schwerer zu erkennen und deshalb zerstörerischer als der preussische Machismo meiner Vaterfamilie. Im “Evangelisch-theologischen Seminar” herrschte intellectual snobbery. Wir waren dreißig durch ein landesweites Examen handverlesene Jungs in einem Barockkloster in Schöntal an der Jagst. Wir waren fünfzehn Jahre alt und konnten uns kaum auf irgendetwas Anderes konzentrieren als auf unsere gerade erst erwachte Sexualität. Und zugleich wurde so getan (und taten wir selbst so), als könne uns unsere mädchenlose Kasernierung in einem riesigen, zugigen alten Gebäude in einer 50-Seelen-Gemeinde in einem der abgelegensten Landstriche im Baden-Württemberg der sechziger Jahre innerlich nicht das Geringste anhaben. Als stünden wir aufgrund unserer intellektuellen Befähigungen und Interessen weit über den Bedürfnissen unserer auch von uns selbst vergessenen und vernachlässigten jungen Körper. In unserem ersten Winter dort gab es wochenlang kein warmes Wasser. Der Frühsport bestand aus Kniebeugen im schwach beleuchteten Korridor mit dem Steinplattenboden vor den ehemaligen Mönchszellen, die jetzt unsere Schlafsäle waren. Und in einem anschließenden Dauerlauf durch Dunkelheit und Schnee um das gesamte Klostergelände herum. Dann lasen wir Seneca, Vergil oder Platon im Original. Und bildeten uns viel darauf ein.

Einbildung ist zwar auch eine Bildung, war aber, um der historischen Gerechtigkeit willen sei es gesagt, nicht die einzige, in deren Genuss wir damals dort gekommen sind. Wir hatten hervorragende Lehrer, die in jedem Sinn auf unsere Talente und Interessen eingingen, auch auf die ausgefallenen und eher seltsamen. Die Hebräisch-AG florierte, es gab Lesekreise für Marx und Horaz, ich durfte meine kunsthistorischen und literarischen Interessen pflegen, einer aus unserer Promotion (wie die Jahrgänge hießen, die seit dem sechzehnten Jahrhundert bis zum Abitur durch diese Klosterschulen geschleust wurden), brachte sich selbst ein ziemlich ordentliches Arabisch bei. Wir waren eine seltsame Truppe von nerds, die meisten ehemalige Schulprimusse, sämtlich geschult und geschädigt durch den schwäbischen Protestantismus. Warum erzähle ich das alles und warum am Beginn eines Lektüreberichts über die Biographie Susan Sontags von Benjamin Moser und ein Erinnerungsbuch der amerikanischen Schriftstellerin Sigrid Nunez, die mit Sontags Sohn liiert war und zeitweilig in Sontags Wohnung am Riverside Drive wohnte? Weil die Lektüre dieser beiden Bücher in mir einen intensiven flashback ausgelöst hat. Sie transportierten mich innerlich nach Schöntal/Jagst zurück. Besonders Benjamin Mosers monumentales Lebensbild halte ich inzwischen für eines der wichtigsten Bücher nicht nur über Susan Sontag, sondern auch über mich selbst und – pathetisch gesprochen: meine Geschichte mit der abendländischen Bildung. Moser hat eine eine Studie vorgelegt über etwas, das nicht nur mein Leben zwar nicht zerstört, aber intensiv gestört hat: eine exemplarische Monographie über die subtile, aber durchdringende Leibfeindlichkeit des Bildungsbürgertums. Beide Bücher sind, wenn auch auf verschiedene Weise, cautionary tales über die Gefahren einer Sexualfeindschaft, die von weither aus der Ideengeschichte kommt. Nämlich aus wenig bedachten Tiefenregionen und Schattenseiten dessen, was in Sonntagsreden gern die antik-judäochristliche Bildungstradition heißt und angeblich eine prima Sache ist. Ist sie ja auch. Aber wie erstaunlich viele gute Sachen auch gefährlich. In meinem eigenen Fall hat die Kombination aus erstklassigem intellektuellem Training und Körpervernachlässigung, wie gut gemeint sie gewesen sein mag, dazu geführt, dass ich mich meine ganzen Zwanzigerjahre hindurch und weit in meine sogenannten “besten Jahre” hinein wie eine Person aus Papier gefühlt habe. “We are the hollow men”, heißt es in T.S. Eliots “The Waste Land” – “headpiece filled with straw, Alas!” – Zeilen, die ich noch heute nicht ohne geheimes Grauen lesen kann und die nur ein Mensch schreiben konnte, dessen Sexualität erst sehr spät im Leben erlöst worden ist. Ich jedenfalls bin jahrzehntelang ein hollow man gewesen und mein headpiece leider voller hochintellektuellem Stroh. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Arroganz kaschiert, wenn auch nur unzureichend, tiefe Unsicherheit und quälende Ausgehöhltheit. Es ist kein schönes Gefühl. Und ich glaube es in den Büchern von Moser und und Nunez aus einer Art Innensicht wiederzuerkennen. Susan Sontags Bücher habe ich zum ersten Mal Weihnachten 1983 zu lesen begonnen, in meinen späten Zwanzigern. Nicht zufällig war die Taschenbuchausgabe von “Under the Sign of Saturn“mit der hell schieferblauen Schmuckfarbe und der Collage von Max Ernst auf dem Cover weniger Anlass eines Bildungserlebnisses als Bestandteil einer Pose. Ein Accessoire. Ich hatte das Buch bei “Shakespeare &. Co” gekauft, in Paris, wohin ich in jenen Jahren kompulsiv zu reisen pflegte und sie passte (und sollte dringend passen) zu einem grauen Flanellanzug von Dior, über den ich eine sehr hohe – vielleicht übertrieben hohe – Meinung hatte. Buch und Anzug waren gleichwertige Erwerbungen derselben Parisreise. Das Buch enttäuschte und beeindruckte mich zugleich. Der Erkenntnisertrag zum Beispiel des in dieser Essaysammlung enthaltenen Aufsatzes über Walter Benjamin, von dem ich damals tatsächlich das eine oder andere gelesen hatte und folglich ansatzweise beurteilen konnte, was Sontag da schrieb, schien mir eher gering und wenig originell. Aber das Image eines in New York ansässigen Bescheidwissens über the more imposing European offshoots of high modernism (wie es in der Rezension des Buchs der “Times” geheißen hatte) war andererseits genau das, womit ich, ein beruflich perspektivloser Deutschlektor an einem englischen College, meine Person zu schmücken und meine reale Aussichtslosigkeit zu kaschieren beabsichtigte. “Das Beispiel Susan Sontags zeigt, in welche Richtung ich gehen will”, steht im Tagebuch aus diesen Monaten im Jahr 1983. “Sie ist für mich gerade in ähnlicher Weise eine ästhetische Orientierungsgestalt, wie es Ronnie Wood von den Rolling Stones vor zwei Jahren war”. Einen oder zwei Monate nach jenem weihnachtlichen Paris-Aufenthalt erlebte ich einen in personam-Auftritt Susan Sontags. Auch das war eine auf den zweiten Blick sehr ernüchternde Erfahrung. Ich lebte in London damals und arbeitete am “King’s College”. Im Tandem mit der “New York Review of Books”-Gründerin Elizabeth Hardwick, so war in “Time Out” angekündigt, würde Sontag sich im Londoner “Institute for Contemporary Art” zum Thema “New York Writes” hören lassen. An einem spätwinterlichen Nachmittag pilgerte ich auf meinem Fahrrad an die baumbestandene “Mall” zwischen Buckingham Palace und Nelson Square, wo der berühmte art space lag. Was die beiden älteren Damen an jenem Nachmittag in den von high modernism durchtränkten white cubes des ICA ihrer ehrfürchtig lauschenden und sich sogar Notizen machenden Zuhörerschaft darboten, war ein carnival of snobbery. Besonders Elizabeth Hardwick konnte sich des herablassend-verächtlichen Namedroppings über die zeitgenössische amerikanische Literatur nicht genug tun. Besonders empörend fand ich, dass die beiden den damals noch in seiner neuenglischen Abgeschiedenheit herumlebenden J.D. Salinger in einer Weise mit Herabwürdigung und Spott überschütteten, als sei die Lektüre meines Lieblingsschriftstellers das literaturrezeptionsästhetische Äquivalent zu einer Wohnzimmerschrankwand im Stil des Gelsenkirchener Barock. Der Eindruck, den die beiden von der amerikanischen Kultur zu haben vorgaben, war niederschmetternd. Es stellte sich an diesem Nachmittag so dar, dass irgendwo in New York eine Art lichte Erhebung der Hochkultur existierte, wo Susan Sontag, Elizabeth Hardwick und einige (sehr wenige!) Autorinnen und Autoren der New York Review of Books der Konversation mit den großen Geistern der abendländischen Tradition oblagen, während tief unter ihnen die unerleuchteten huddling masses irregeleiteter amerikanischer Leserinnen und Autoren, durch ihren schlechten Geschmack verwirrt, in ihrer kleinen Welt herumwuselten, irrelevant und ein bisschen lächerlich. Irgendwie hatte das Massaker dieses Samstagnachmittags nur ein Resüme: dass außer Susan Sontag und Elizabeth Hardwick niemand ästhetische Maßstäbe besaß, die in irgendeiner Weise erwähnenswert gewesen wären. Ich hatte mehr oder weniger abgeschaltet und horchte nur noch zweimal auf: als Sontag eine Eloge auf den 1972 aus der Sowjetunion ausgewiesenen Joseph Brodsky anstimmte und als sie beiläufig sagte, New York sei die einzige amerikanische Metropole, in der man kein Auto bräuchte, weil man zur Not überallhin zu Fuß gehen könne. Brodskyverehren und Newyorkspaziergänge würden erst Jahrzehnte später zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehören, aber in diesen beiden Nebenbemerkungen der amerikanischen Kritikerin hatten sie einen ersten Auftritt. Ansonsten befleißigte sich Sontag, während die beiden zu Gericht saßen, einer statuarischen, irgendwie junonischen Göttermutter-Ungerührtheit. Von der olympischen Höhe ihrer intellektuellen Allmacht herab fällte sie ihre Urteile und betrachtete sie ihren eigenen Lebenslauf: Wie sie aus der Provinz gekommen sei und wie der Jungmädchen-Herzenswunsch, in der “Partisan Review” zu publizieren, ihr von der hingerissen verehrungsbereiten Redaktion selbstverständlich sofort erfüllt wurde, worauf der rest history gewesen sei. Undsoweiter. Einen vergleichbaren Grad intellektueller Aufgeblasenheit hätte ich überhaupt noch nie gesehen, gab ich im Tagebuch zu Protokoll. Und seltsamerweise auf der nächsten Seite einen Traum über den gerade erst ins Amt gekommenen Helmut Kohl, dessen Provinzialismus und angebliche Dummheit sich die Intellektuellen in der Heimat damals gerade hemmungslos verspottet wurde. Kohl, träumte ich, sei in meinem bildungsbürgerlichen Elternhaus zu Gast gewesen, wo er sich unbehaglich gefühlt und ungeschickt aufgeführt habe. “Sie lachen über seine Unwissenheit und ich lache mit und schäme mich dafür. Er sagt dann später, als wir allein miteinander sind: ‘Gottseidank, dass ich so dumm, dick und tapsig bin, sonst hätten mich die Leute nicht gewählt.’ Der Traum bedeutet, dass ich mich unterm Eindruck des Kings College und solcher Diskussionen wie neulich mit Susan Sontag von meinen bildungsbürgerlichen Maßstäben befreie.” Was eine voreilige und übertrieben optimistische Selbsteinschätzung war. Körperlichkeit, Gefühl und “Tapsigkeit” würden in meiner inneren Landschaft damals noch jahrzehntelang gegen eine papierene Tradition von Intellektualität stehen, in der ich aufgewachsen war und zu deren Inbild mir in jenen einsamen und verwirrten Londoner Wochen Susan Sontag wurde. Es gibt auf YouTube den Mitschnitt eines BBC-Gesprächs (“Voices”) aus genau jenem Jahr 1983. Susan Sontag und mein späterer literarischer Lehrer, der marxistische Kunstkritiker und Schriftsteller John Berger unterhalten sich über das Erzählen und Schreiben von Geschichten: “To Tell a Story”. Berger und Sontag sind in diesem Film die persongewordenen Pole meines damaligen Gefühlskonflikts. John Berger, den ich knapp ein Jahr später kennenlernen sollte, ist, wie erwähnt, einer der körperlichsten Menschen, in deren Nähe ich je geraten bin. Er sitzt, eine geistvoll faunische Männerschönheit, in dieser Fernsehdiskussion weit nach vorn auf die Platte des Studiotischs gebeugt, die Füße hinter die Vorderbeine seines Sessels geklemmt. Er balanciert, seiner Kontrahentin fast kampfsportlich zugewandt, auf der äußersten Stuhlkante: ein Bild intellektueller Sprungbereitschaft. Anspannung, Emotion, diejenige Art von Gedankenarbeit, die sich in Mimik und Gestik spiegelt, drücken sich in jeder seiner Bewegungen und in jedem seiner Tonfälle aus. Ihm gegenüber sitzt eine vor Beherrschtheit und Selbstkontrolle fast gelähmt wirkende Frau. Im Gegensatz der Körperpositionen kommen die gegensätzlichen intellektuellen Stile Sontags und Bergers zum Ausdruck. Berger propagiert und verkörpert in diesem Gespräch eine Haltung, die man mit Antonio Gramsci “organische Intellektualität” nennen könnte: ein Erzählen nah an der Leiblichkeit, umgeben von der Landschaft, verankert in der körperlichen Arbeit, in dauerndem Kontakt mit den Menschen des französischen Bergdorfs, bei denen er lebt und deren Geschichten er in seinem Schreiben aufbewahrt: “I want the story to stop things being carried away into oblivion.” Sontag setzt diesem “organischen” Erzählen sehr unbewegten Gesichts, in weit zurückgelehnter, “überlegener” Haltung eine kühle, vermittelte, sozusagen metropolitane – und vor allem priesterlich hochkulturelle – Konzeption entgegen: “I’m loyal to modernist assumptions about art which I think you have come to question”, wie sie sagt. Ich glaube vor meinem Rechner beim Ansehen dieses TV-Gesprächs am eigenen Leib spüren zu können, wie sie sich in diesen Momenten und konfrontiert mit diesem Mann fühlt. Sie fühlt sich, glaube ich zu wissen, in diesem Moment wie aus Papier, und so wirkt sie auch auf den Zuschauer. Jedenfalls auf mich. Das Gespräch bewegt sich auf einem intellektuellen Niveau, das in heutigen Fernsehdiskussionen undenkbar scheint und verläuft in zivilisierten, vordergründig freundschaftlichen Formen. Aber es ist grundiert von einer unterschwelligen Feindseligkeit. Existentielles, auch ungeschickt-“tapsig” sich darstellendes Engagement steht gegen eine mandarinenhafte coolness, der auf den zweiten Blick etwas Spielverderberisches und auch Klassenstreberhaftes anhaftet. Auf einen vereinfachten Nenner gebracht – so vulgär gesagt, wie in dieser Sendung natürlich niemals gesprochen worden ist: Susan Sontag stellt John Berger als einen vormodernistischen Dorfdeppen hin. Gut gemeint sei nicht gut gemacht, lautet ihr unausgesprochenes Verdikt über Bergers Lebens- und Schreibprojekt. Und sie merkt keine Sekunde lang, dass sie selbst in dieser Diskussion keinen irgendwie greifbaren Eindruck hinterlässt außer dem einer unspezifisch-geisterhaften, sich gasförmig nach allen Seiten und in jede Ecke des Gesprächs ausbreitenden intellektuellen Brillianz. Konfrontiert mit der körperlichen Erdung ihres Gesprächpartners bleibt sie ein hochkultivierter Schatten. Während wir nach dieser Gesprächsstunde genau wissen, was Berger mit seinem Schreiben und Leben will, sitzt sie zum Schluss im Grunde mit leeren Händen da. Wir nehmen das Bild eines erstklassigen Intellekts mit, der in einer schwer zu greifenden Sterilität gefangen, ja untergegangen ist. Die Lektüre der Biographie Mosers ist für mich erschütternd vor allem deshalb gewesen, weil sein Buch nachzeichnet, dass genau diese Sterilitätsverschattung das innerste Lebensproblem Susan Sontags war. Es ist das Problem körperlich unerlöster Intellektualität. Schon das sechzehnjährige Mädchen, schreibt Moser, wusste um “die große Herausforderung ihres Lebens”. Ihr “größtes Unglück” nämlich, schrieb Susan Sontag als Teenager in ihr Tagebuch, sei “die qualvolle Dichotomie zwischen Körper und Geist.” Und: diese Dichotomie war nicht nur ihre. Es ist das Unglück einer Intellektuellengeneration, die um 1968 ihren historischen Moment erlebte und damals, wohl ohne es zu wissen und paradoxerweise gegen ihre selbstproklamierten Intentionen, den Platonismus der antiken und die Askesebereitschaft der christlichen Tradition wiederbelebt hat. Man konnte sich damals nicht genug tun im Lobpreis freier Liebe. Aber es gab nichts Unerotischeres als die öffentliche persona von Rudi Dutschke und den real existierenden sexuellen Alltag der meisten seiner Adeptinnen und Adepten. Als ich mit achtzehn oder neunzehn mit einem damals glühend verehrten Mentor in München ausging – mit dem Dandy und Maler Werner Stemans – und das Buch “Sexualität und Klassenkampf” öffentlichkeitswirksam unterm Arm trug, stellte der die einzig richtige Frage. Er sagte: “Ohne den Klassenkampf macht’s euch wohl keinen Spaß mehr, wie?” Ich hatte, obwohl ich abendelang über Herbert Marcuses “Eros and Civilisation” zu schwadronieren imstande war, tatsächlich noch nie mit einer Frau geschlafen, und es würde auch noch ein oder zwei Jahre dauern, bis es soweit war. Ich war eine radikal daherredende Buchperson. Ein hollow man, headpiece filled with straw. Für Susan Sontag realisierte sich die “qualvolle Dichotomie zwischen Körper und Geist” – Moser weist es analytisch in großer Materialfülle nach und Nunez illustriert seinen Befund mit eindrücklichen autobiographischen Beispielen – als Unvereinbarkeit ihrer Liebe zu Frauen mit ihren intellektuellen Begabungen und Aspirationen. Sie schämte sich, bis zuletzt, der Art ihres Begehrens und wohl überhaupt ihrer Person. Vor allem allem schämte sie sich ihres Körpers. Sie vernachlässigte ihn in selbstquälerischer Weise. Während ihrer gesamten Schwangerschaft ist die damals noch sehr junge Ehefrau kein einziges Mal zu einer Ärztin gegangen und sie scheint tatsächlich nicht gewusst (oder verdrängt) zu haben, dass der Geburtsvorgang mit Schmerzen verbunden ist. Sie hatte zeitlebens keine Krankenversicherung. Sie war bei Menschen, die sie besser kannten, dafür berühmt, ihre persönliche Hygiene zu vernachlässigen. Sie rauchte trotz ihrer zweimaligen Krebserkrankung täglich zwei Schachteln Zigaretten. Sie verachtete Sport. Ihre Idee intensiver geistiger Arbeit bestand in ruinösen nächtlichen Überanstrengungsorgien. Menschen, die ihren Körper ablehnen, haben erfahrungsgemäß Probleme damit, die eigene Person gernzuhaben. “Als Teenager beklagte sich Susan über die beklemmende Präsenz der ‘Person, die mich beobachtet, solange ich denken kann’, schreibt Moser. Dieser unbarmherzige interne Beobachter, typisch für narzisstische Störungen, trug bildungsbürgerliche Züge, vermutlich sogar ganz konkrete. Moser macht wahrscheinlich, dass der interne Quälgeist Susan Sontags aussah wie Robert Hutchins, der charismatische, gerade mal dreißigjährige Präsident der University of Chicago, der diese Hochschule in den fünfziger Jahren, inspiriert durch Lionel Trilling und die “Great Books”-Ideologie, zu einem der brilliantesten, forderndsten, unbarmherzigsten und snobistischsten Orte der Welt machte. “Für jemanden, die in ihrer Ausbildung gelernt hatte, dass jedes Leben, das dem sokratischen Vorbild nicht genügte, verfehlt sei, und der von frühester Jugend ein tyrannisches Ideal moralischer Vollkommenheit eingepflanzt wurde, war der Wunsch nach Reinheit ein Ansporn, aber auch eine schreckliche Belastung”, schreibt Moser. Ein sublimierte Neigung zur Grausamkeit gegen andere und sich selbst gehört zum Syndrom. Sontag fühlte sich zeitlebens am meisten zu Menschen hingezogen, die sie ablehnten und behandelte diejenigen, die sie wirklich liebten, mit intellekteller Herablassung und Aggression. Vor allem ihre Lebensgefährtin Annie Leibowitz, die sie für “dumm” hielt und ihr das bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, fiel den double-bind-Fallen ihres Selbsthasses zum Opfer. Sigrid Nunez wiederum erzählt über hochsublimierten Sadomasochismus ihr gegenüber und im Verhältnis zu ihrem Sohn David Rieff. Das überraschendste und auch angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen ihrer Lebenszeit erstaunlichste Symptom der Sontag’schen Selbstablehnung jedoch war die bis zum Schluß ihres Lebens aufrechterhaltene Weigerung, als öffentliche Person zu ihrer sexuellen Präferenz zu stehen. Die Autoaggression, dem die bildungsbürgerliche Tradition Vorschub leistet, war spätestens seit den siebziger Jahren – als Coming Out eine wichtige Strategie der keimenden LGBT-Bewegung wurde – ein politisches Problem im öffentlichen Auftritt und der kulturgesellschaftlichen persona Susan Sontags. Dass Sontag Homosexualität im Grunde zeitlebens für das Gegenteil ihrer bildungsbürgerlichen Ideale gehalten hat – für eine Subversion jener unbarmherzigen Introjekte von Reinheit, Geistesheroismus, Überlegenheit, Urteilsstrenge und geistiger Weltherrschaft – grundiert als paradox ambivalentes double-bind-Mobile aber auch ihre folgenreichste intellektuelle Leistung. Die besteht bekanntlich in der Anwendung der Untersuchungsmethoden und Standards akademischer Philologie und Ikonographie auf die um 1960 herum noch subversiven Unterschichtkulturen des Films, des Camp, des Kitschs, der Fetischmode und des Pop. Sontags folgenreichster und bedeutendster Text “Notes on Camp” sollte ursprünglich “Notes on Homosexuality” heißen. Sie hatte an den 16 Seiten jahrelang gearbeitet und die dort enthaltenen Motive dominieren Sontags Notizen vor und nach der Veröffentlichung in der Partisan Review 1964. Camp ist eine späte Pop-Version des vielzitierten Bonmots aus dem Aufsatz Friedrich Nietzsches über “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” von 1872. Dort steht, das Dasein und die Welt seien “nur als ästhetisches Phänomen ewig gerechtfertigt”. Camp entsteht dementsprechend, wenn sexuelle Identität als Rollenspiel gelebt wird. Er ist die Verwandlung von Triebschicksal in Metaphorik. “Camp sieht alles in Anführungsstrichen: nicht eine Lampe, sondern eine ‘Lampe’; nicht eine Frau, sondern eine ‘Frau’.” Der Begriff bildete sich in Sontags subjektiver und hoch ambivalenter Beobachtung der frühen, gesellschaftlich verpönten, halb illegalen und nur als subversive kulturelle Form öffentlich werdenden Lebenswelt homosexueller Menschen der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Ihre Begriffsbildung verdankt sich dem ästhetisch geschulten Blick, der Sensibilität und der intellektuellen Trennschärfe einer so brillianten wie mit dem eigenen Lesbischsein innerlich tief zerfallenen Frau. “Camp zieht mich stark an und stößt mich fast ebenso stark ab”, lautet einer der Kernsätze des Essays. Er entfaltet seine ambivalente Spreng- und Zerstörungskraft – Grund der Relevanz und Klassizität des Stücks bis heute – zwischen homosexuellem Begehren und den Überich-Konstruktionen der Hochkultur. Entsprechend explosiv war die Ambivalenz der damals einunddreißigjährigen Autorin selbst ihrem wichtigsten Text gegenüber. “Sie war uneins mit sich wegen des Aufsatzes, weil er von Homosexualität – von ihr selbst – handelte.” In dieser ambivalenten Kreativitätsgesinnung bildete sich der Begriff, der das Lebenswerk Sontags durchzieht, der Begriff der Metapher. Camp ist eine Metapher des Begehrens. Aber auch die Vernichtung des Körpers durch Krebs oder Aids interessierte Sontag vor allem als metaphorischer Vorgang, als “ästhetisches Phänomen”. Nicht nur der begehrende, sondern auch der von Vernichtung bedrohte Körper wird mit ästhetischen Verfahren aus der Wirklichkeit hinauskomplimentiert. “Die Probleme, die Aids und seine Metaphern innewohnen, werden klar, wenn man daneben andere Bücher der Zeit liest”, schreibt Moser und erwähnt Tony Kushner, Edmund White, Andrew Holleran, Paul Monette, Alan Hollinghurst und Randy Shilts. “Diese unterschiedlichen Bücher – Theaterstücke, Romane, Memoirs, Geschichten – sind verbunden durch den tiefen Kummer. Neben ihnen (…) scheint Sontags Beitrag dünn, geziert, distanziert: unwesentlich, weil das Gefühl fehlt, was Aids für meine Freunde, meine Liebhaber, meinen Körper bedeutete.” “O welch ein edler Geist ist hier zerstört” (Hamlet). Susan Sontags Werk ist ein imponierendes Beispiel für die Tag- wie für die Nachtseite der intellektuellen Tradition des sogenannten Westens. Einerseits für dessen heroische Suche nach Wahrheit, Kompromisslosigkeit, Reinheit, Letztbegründung, Konsequenz, Radikalität – für jene immerwährende (und immer vergebliche) Suche nach “abschließenden Vokabularen”, wie es Richard Rorty genannt hat. Sontag ist aber auch das warnende Beispiel dafür, was diese Tradition und diese Suche vergessen haben und welche Folgen dieses Vergessen zeitigt. Erst das “Andere der Vernunft” (Hartmut und Gernot Böhme) gibt dem Geist Wärme, Gewicht und Lebendigkeit. Aus den Märchen kennt man das Motiv “Vergiss das Beste nicht”. Ernst Bloch hat ihm einen seiner schönsten und unheimlichsten philosophischen Aphorismen gewidmet: Ein großer Schatz wird gefunden, neben dem eine unscheinbare, halb verwelkte Blume liegt. Der Schatzgräber verschmäht sie. Als er aber ins Tageslicht zurückkehrt, hat sich das Gold zu Staub verwandelt. Das Beste war jene Blume und ohne sie ist alles nichts. Das Ziel jeder intellektuellen Suche, das scheint Susan Sontags Lebensbeispiel uns lehren zu können, liegt außerhalb dessen, was intellektuelle Suche finden kann.