Gibt es nichtfiktionale Literatur?

Neue Rundschau
04/2016

hrsg. von: Hans Jürgen Balmes, Jörg Bong, Alexander Roesler, Oliver Vogel

Im Oktober 2015 wurde Swetlana Alexijewitsch – eine weißrussische Autorin von Interview- und Reportagebüchern – mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Die Literaturkritikerin Iris Radisch äußerte sich zur Entscheidung der Jury in der „Süddeutschen Zeitung“ ablehnend. „Literatur muss etwas Schöpferisches haben“ sagte sie. Sie muss ‚fiction‘, eine eigene Erfindung sein, sie muss eine besondere Sprachqualität haben, und sie muss – das ist ganz wichtig – eine eigene imaginative und weltverwandelnde Kraft haben. Das ist bei Swetlana Alexijewitsch nicht der Fall. Das ist keine Literatur“. In der ZDF-Sendung „kulturzeit“ am 8.10.2015 schränkte Radisch den Geltungsanspruch des Literarischen sogar noch weiter ein, nämlich auf eine einzige Gattung: „Ich denke immer, ein Literaturnobelpreis soll Literatur küren. Für Romane halte ich persönlich ihre Bücher überhaupt nicht“. Radischs Unzufriedenheit mit der Stockholmer Entscheidung offenbart ein – unausgesprochenes, aber allgegenwärtiges – Vorurteil zeitgenössischer Literaturinteressierter: Literatur unterscheide sich von Nichtliteratur durch Fiktionalität – und das vorzugsweise im Roman.

Dieser Konsens mag gegenwärtig nicht umstritten sein; literaturhistorisch ist er kurzsichtig. Für den Bestand literarischer Tradition sind die nicht-fiktionalen Texte mindestens so wichtig wie die fiktionalen. Herodots Reiseberichte, Caesars Militärchroniken, Plutarchs Biographien, Ciceros Gerichtsreden werden ganz selbstverständlich in lateinischen und griechischen Literaturgeschichten abgehandelt (obwohl es sich nicht von selbst versteht, wenn man die Maßstäbe des gegenwärtigen Literaturbetriebs anlegt). Dasselbe gilt für überholte wissenschaftliche Sachtexte, die in der Gegenwart immer noch geschätzt werden, aber nicht mehr aus den Gründen, denen sie ihre Entstehung verdankten, sondern wegen ihrer stilistischen Qualitäten: Robert Burtons „The Anatomy of Melancholy“ zum Beispiel, die Traktate Thomas Brownes über archäologische Funde und medizinische Ethik, Alexander von Humboldts und Georg Forsters Forschungsreiseberichte; oder auch Goethes Farbenlehre. Geschichtsschreibung – vielleicht weil sie notwendigerweise erzählen muß und das von ihr Erzählte meistens dramatisch ist – wird seit ihren Anfängen als legitimes literarisches Genre betrachtet. Theodor Mommsen und Winston Churchill erhielten für ihr historiographisches Werk den Nobelpreis für Literatur (Radisch müßte es wissen, blendet es aber aus). Schon zu Lebzeiten Michel de Montaignes und Francis Bacons wurden die autobiographischen personal essays des französischen und die fürstenerzieherisch-apodiktischen Belehrungstexte des englischen Renaissanceschriftstellers der künstlerischen Literatur zugerechnet. Seither ist besonders „Essay“ ein anderes Wort für einen nicht-fiktionalen Text, dem künstlerischer Rang zuerkannt wird.

Wie ist es zustandegekommen, daß sich der Geltungsbereich des Literarischen in der Gegenwart derart verengt hat und welche literarischen Möglichkeiten sind der Gegenwartskultur durch diese Verengung verlorengegangen? Antike und mittelalterliche Intellektuelle waren gegenüber literarischen Fiktionen eher mißtrauisch. Eine Verdoppelung der Welt durch die literarische Darstellung erfundener – also „unwahrer“ – Personen und Begebenheiten, so das platonische und später christliche Vorurteil, lenke ab von der würdigeren Aufgabe, die Wahrheit der Ideen zu schauen oder den göttlich geordneten Kosmos beschreibend zu bewundern. Jahrhundertelang galt, daß „die Dichter lügen“. In Platons Philosophenstaat hatten sie nichts zu suchen. In der Kirche war ihr Können als rhetorisches Schmuckelement der Predigt oder im Kirchenlied zwar geduldet. Ausschließlich fiktionale Literatur jedoch – nutzlose, unwahre, nicht-erbauliche und unterhaltsame also – kam erst mit der Erfindung des Buchdrucks auf den Markt und legitimierte sich erst spät als Kunst. (1) Anders als Wissenschaft und Religion durfte Literatur seither lügen. Aus einem Fehler wurde ein Differenzmerkmal, aus einer moralischen Verirrung ein ästhetischer Vorzug. Erst jetzt gehörten die Fiktionen irgendwie zur Bildung. Sie unterschieden Literatur von Wissenschaft, Moralphilosophie und Religion. Der Siegeszug des Fiktionalen begann. Seit dem neunzehnten Jahrhundert beherrscht Fiktionalität die Literatur der europäischen Länder uneingeschränkt. Ihre wichtigsten Gattungen sind bis heute der realistische Roman und das naturalistische Drama.

Realismus und Naturalismus machten Fiktionalität im bürgerlichen Zeitalter einerseits zum allgemein Erwartbaren, wenn von Literatur die Rede war. Aber sie domestizierten sie auch. Die Fiktionen wurden von Zola, Flaubert, Hauptmann oder Schlaf – anders als in den barocken Romanen oder den „magisch realistischen“ Erzählweisen der Moderne – sorgfältig an wiedererkennbare gesellschaftliche Wahrheiten zurückgebunden. Die „realistische“ Ausgestaltung eines detailliert geschilderten Milieus funktionierte (auch im Roman) als Bühne. Personen traten dort auf, die zwar fiktional waren, aber durch „typische“ Stilisierung für bestimmte gesellschaftliche Trends und Klassen einstanden. Sie waren genau verortet in ihrer gesellschaftlichen Stellung. Ihr Charakter war plausibel gezeichnet. Manchmal verwendeten die naturalistischen Autoren sogar den Dialekt dieser Figuren auf der Bühne oder in ihren Romanen.

Andererseits: so täuschend ähnlich waren die fiktionalen Figuren der Wirklichkeit nur deshalb, weil sie auf etwas Reales verweisen sollten, das „höher“ war als sie. Das fiktive Personal verkörperte die Ideen und Probleme, die das Publikum auch beschäftigten, wenn sie nicht im Theater waren und gerade keine Romane lasen – und ihnen deshalb als das eigentlich Wirkliche vorkamen: das „Nihilismusproblem“ in Dostojewskis „Dämonen“, das Problem der modernen Kunst in Thomas Manns „Doktor Faustus“, die „rechtsphilosophische Frage nach der objektiven Existenz von Recht und Unrecht“ (so Wikipedia) in Juli Zehs Roman „Spieltrieb“. Es war und ist ein später heimlicher Sieg des Platonismus. In einer sozusagen gebremsten und in gesellschaftliche Verantwortung genommenen Form wurde Fiktionalität im neunzehnten Jahrhundert das allgemein akzeptierte Unterscheidungskriterium dafür, ob ein Prosatext Literatur darstellt oder etwas anderes – bis heute.

Vor der literarischen Nobilitierung der Reportage durch den amerikanischen „New Journalism“ im zwanzigsten Jahrhundert war der Essay die einzige nichtfiktionale Literaturgattung, die sich neben den schon in der Antike bekannten Sachtextgenres – der Geschichtsschreibung, der Autobiographie, des Reiseberichts und der Rede – im literarischen Gattungsensemble etablieren konnte. Der Essay ist die Erfindung einer einzelnen Person, des französischen Staatsmanns und Philosophen Michel de Montaigne. Sie wurde fast zeitgleich in England von Francis Bacon aufgenommen und weiterentwickelt. In Montaignes Essays einerseits und andererseits denjenigen Bacons sind schon im späten sechzehnten Jahrhundert zwei unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten der neuen Gattung angelegt. Auf Montaigne können sich seither Essayisten berufen, die erstens ihre eigene Person – ihre inneren Erlebnisse, Abenteuer und Idiosynkrasien – zum Ausgangspunkt des Schreibens über – zweitens – scheinbar Nebensächliches machen; auf Francis Bacon dagegen Autoren stilistisch anspruchsvoller Sachtexte, die vernünftige Ansichten und gesicherte Kenntnisse über Wichtiges und Wissenswertes allgemeinverständlich darstellen. „Der Essay entsteht zugleich mit der neuzeitlichen Wissenschaft. Einer ihrer Begründer, Francis Bacon, ahmte in seinen ‚Essays‘ um 1600 die von Montaigne gefundene Form nach, um für das aufgeklärte Wissen über die Welt ein Publikum zu gewinnen, das in der alten Literatur gebildet, aber in den neuen Wissenschaften unerfahren war.“ (2) Bacons Essay lebt in der Gegenwart als literary non-fiction, „erzählendes Sachbuch“, politischer Leitartikel oder in Formen wie dem „Spiegel-Essay“ fort (5).

Die Montaigne-Tradition des personal essay wird sich auf dem Weg in die Moderne als interessanter und literarisch fruchtbarer erweisen. „Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs: es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf einen so unbedeutenden, so nichtigen Gegenstand verwendest“, lautet die viel zitierte Formulierung seines essayistischen Programms in der Vorrede zu seinen Essays. Es ist in einer spezifischen kultursoziologischen Situation entstanden. Sowohl das Interesse an der eigenen Person als auch das Wichtignehmen des Nebensächlichen stammt aus „Verhaltenslehren der Kälte“ (3) und der coolness, die im Zusammenhang mit der Kunst- und Kulturpolitik italienischer Renaissancehöfe entstanden waren. Ein Ausdifferenzierungsprozeß innerhalb der italienischen Adelsgesellschaft hatte die reale Macht in der engsten Umgebung des Herrschers konzentriert. Er zog deshalb – unter anderem mit Hilfe kultureller Distinktionspolitik – Standeskollegen an seinen Hof, die sich für den Verlust an Entscheidungsgewalt nun durch die Kultivierung ihrer individuellen Vortrefflichkeit entschädigten. Ihre Bildung, ihre Umgangsformen, ihr individueller Stil sicherten ihnen das Ohr des Machthabers. Der einflußreichste Leitfaden adliger Selbstzivilisierung war seit dem sechzehnten Jahrhundert der philosophische Dialog Il libro del cortegiano von Baldassare Castiglione, eine Art platonisches Literaturgespräch real existierender Personen, die sich am Hof von Urbino darüber unterhalten, wie ein Angehöriger des Dienstadels sich verhalten und vor allem: wie er sein solle.

Montaignes literarisches Programm verwirklicht ein zentrales Motiv dieser Gespräche: daß es zur Vortrefflichkeit der vornehmen Person gehöre, das das gemeinhin für wichtig Gehaltene − Leben und Tod − scheinbar nachlässig und obenhin zu behandeln; und das allgemein für unwichtig Befundene mit ironischer Überschätzung. „Es handelt sich“, so Castiglione, „um eine Kunstfertigkeit, die keine Kunstfertigkeit zu sein scheint. Zu vermeiden ist Affektation. Wichtig ist, sich in allen Dingen zu üben in einer Art ‚sprezzatura‘, einer Art herablassender Nachlässigkeit und Sorglosigkeit, um die Kunstfertigkeit zu verbergen und alle seine Handlungen und Äußerungen mühelos aussehen zu lassen und fast so, als verschwende man keinen Gedanken an sie.“ (4) Montaigne verwirklichte sprezzatura als literarisches Verfahren. Zwar widmet er zum Beispiel einem so wichtigen und ernsten Thema wie dem Sterben einen seiner Essays (er hält den Tod in stoisch-epikuräischer Tradition für ebenso unvermeidlich wie überschätzt). Aber sein eigentliches schriftstellerisches Engagement gilt (mit „herablassender Nachlässigkeit und Sorglosigkeit“) so trivialen oder abseitigen Themen wie „Über die Hinkenden“, „Über einige Verse des Vergil“, „Über Wagen“, „Über die Daumen“, „Über das Schlafen“ oder „Über belanglose Spitzfindigkeiten und Spielereien“. Montaignes Interpretation des Essayistischen ist in sehr verschiedenen Literaturformen fruchtbar geworden. Ihr Einfluß läßt sich an ganz unerwarteten Orten der Tradition nachweisen. Wahrscheinlich hängt diese Wandlungsfähigkeit und Wirksamkeit damit zusammen, daß Montaignes sprezzatura das Alltägliche (Essen, Mode, Großstadt, Sittengeschichte) ebenso zwanglos thematisieren kann wie das Persönliche; aber auch Philosophie und Bildung. Im neunzehnten Jahrhundert hat sie sich – bei Baudelaire, Hazlitt, Barbey D’ Aurevilly und Max Beerbohm zum Beispiel – mit der Figur des Dandy assoziiert, die den Renaissance-Cortegiano um einige seiner Haltungen beerbt hat und zur Gattung des personal essay eine besondere Nähe zeigt.

Ein Beispiel für die verzweigten und überraschenden Folgen Montaignes sind die nachgelassenen Spätschriften Friedrich Nietzsches (dessen „Unzeitgemäße Betrachtungen“ sich noch dem Bacon-Modell anlehnten). Er folgt im Wichtignehmen der eigenen Person und des gemeinhin des Nachdenkens nicht für wert Gehaltenen („Eine starke Mahlzeit ist leichter zu verdauen als eine zu kleine“; „Thee sehr nachtheilig und den ganzen Tag ankränkelnd, wenn er nur um einen Grad zu schwach ist) (6) – der sprezzatura-Tradition. Der Philosoph monumentalisiert sich in „Ecce Homo“ einerseits als ein weltphilosophiegeschichtliches Ereignis; und zeigt sich andererseits zugleich als Dandy oder Cortegiano. „Vornehmheit“ ist eines seiner Lieblingswörter. Nicht nur begründet (oder behauptet) eine Überschrift seines essayistischen Selbstdarstellungspamphlets „Warum ich ein Schicksal bin“; sondern zugleich auch „Warum ich so gute Bücher schreibe“. Tips für die Wahl des philosophisch korrekten Aufenthaltsorts, Diätvorschläge und Fitness-Vorschriften verbinden sich (wenn auch nicht ohne unfreiwillige Komik) mit Sätzen wie „Dergleichen ist nie gedichtet, nie gefühlt, nie g e l i t t e n worden: so leidet ein Gott, ein Dionysos (7)“. Mit den Montaigne-Zügen seiner Selbststilisierung wurde Nietzsche eine moderne Zentralfigur. Sein Zeitgenosse Otto Gildemeister, der als Essayist die Bacon-Tradition fortsetzte (und der, während Nietzsche schrieb, im Gegensatz zu ihm von den Gebildeten des späten neunzehnten Jahrhunderts tatsächlich gelesen wurde) ist vergessen. „Der Stil von Prosaformen, die sich in der Mitte zwischen Dichtung und Wissenschaft halten, der Stil also von Essay, Aphorismus und Manifest, der Stil der kulturellen Diskurse, folgt im 20. Jahrhundert Nietzsche und nicht Gildemeister“ (8). Im neunzehnten Jahrhundert rückten der kulturkritische Essay (9) und die literaturkritische Essayistik ins Ensemble der allgemein als literarisch empfundenen Formen ein.

Nietzsches Zentralstellung in der Geschichte des nichtfiktionalen Schreibens beweist sich jedoch nicht nur durch seine Version einer modern gewendeten sprezzatura. Er ist vor allem der Erfinder einer Ausprägung nicht-fiktionaler Literatur, die sich über Umwege ebenfalls aus Montaignes Ausprägung der Gattung herleitet und die man als „Gedankendrama“ bezeichnen könnte. Sie ist noch heute relevant – bei Michael Rutschky und David Shields zum Beispiel. Man könnte diese von Nietzsche ausgebildete Form so beschreiben, daß sie sich beim naturalistischen Roman seiner Zeit – oder eben der zeitgenössischen Dramatik – parodistisch bedient, indem sie die Ideen selber in eine Handlung verwickelt und die Personen und Handlungen, durch die sie sich im Roman und im Drama verkörpern, einfach wegläßt. Nietzsches Prosa nähert sich durch die sorgfältige Angleichung seines geschriebenen Stils an Mündlichkeit dem Fiktionalisierungsverfahren des naturalistischen Dramas. Und sein Versuch, „das moderne Denken auf den Bahnen einer Genealogie des Wahrheitsglaubens und des asketischen Ideals über sich hinaus“ zu „schleudern“ (10) macht den wahrheitssuchenden Leser zum Helden einer dramatischen Handlung. „Ist man einmal mit seinem Schiffe hierhin verschlagen, nun! wohlan! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand fest am Steuer! – wir fahren geradewegs über die Moral weg, wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsern eigenen Rest Moralität, indem wir dorthin unsere Fahrt machen und wagen – aber was liegt an uns.“ Die philosophische Wahrheit wird bei Nietzsche zu einer koketten dramatis persona: „Vorausgesetzt, daß die Wahrheit ein Weib ist -, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, daß alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? (11)“ Oder sie tritt – dem deus ex machina gleich, der am Ende des Dramas als Auflösung der Verwicklungen aus dem Schnürboden herabgelassen wird – am Ende komplizierter und dramatischer Gedankengänge aus einer heroischen Naturkulisse hervor: „Allmählich mehr Unruhe; vereinzeltes Wetterleuchten; sehr unangenehme Wahrheiten aus der Ferne her mit dumpfem Gebrumm laut werdend, – bis endlich ein tempo feroce erreicht ist, wo Alles mit ungeheurer Spannung vorwärts treibt. Am Schluß jedes Mal, unter vollkommen schauerlichen Detonationen, eine neue Wahrheit zwischen dicken Wolken sichtbar.“ (12)

Nietzsches Gattungserfindung des Gedankendramas hat noch zahlreichere Nachahmer gefunden als die literarische sprezzatura Montaignes. In seinem Aphorismus „Ringverein“ schildert Theodor W. Adorno einen „Typus von Intellektuellen“, der „in den Büchern des Verlegers Eugen Diederichs“ publiziert und dem zu mißtrauen sei. „Das sind die ringenden Menschen, die permanent im Kampf mit sich selbst, in Entscheidungen unter dem Einsatz der ganzen Person leben (…) Die Ausdrücke sind allesamt von Krieg, leibhafter Gefahr, wirklicher Vernichtung entlehnt, aber sie beschreiben bloß Vorgänge der Reflexion, die zwar bei Kierkegaard und Nietzsche, auf welche die Ringer mit Vorliebe hinweisen, mit dem tödlichen Ausgang zusammenhängen mochten, ganz gewiß aber nicht bei ihren unerbetenen Gefolgsleuten, die sich selber aufs Wagnis berufen.“ (13) Georg von Lukács’ Essay über den Essay von 1911 (14) ist ein heute noch literaturwissenschaftlich relevanter Beitrag zur Poetik und Psychologie des Gedankendramas und dessen Hintergrund eines „ästhetischen Fundamentalismus“ (15); auch Lukács beschreibt den Essayisten als eine Art Romancier jener Abenteuer, die Menschen mit Ideen zustoßen können: „Es gibt also Erlebnisse, die von keiner Gebärde ausgedrückt werden könnten und die sich dennoch nach einem Ausdruck sehnen. Du weißt schon aus allem Gesagten, welche ich meine und welcher Art sie sind. Die Intellektualität, die Begrifflichkeit ist es, als sentimentales Erlebnis, als unmittelbare Wirklichkeit, als spontanes Daseinsprinzip; die Weltanschauung in ihrer unverhüllten Reinheit als seelisches Ereignis, als motorische Kraft des Lebens.“(16) Gleichzeitig sieht Lukács den Subjektivismus der Gattung als Grund für ihre prekäre Sonderstellung: „Jedoch hier wird die Existenzmöglichkeit des Essayisten erst recht in die tiefsten Wurzeln hinein problematisch: nur durch die richtende Kraft der geschauten Idee rettet er sich aus dem Relativen und Wesenlosen – wer gibt ihm aber das Recht zum Gericht? Es wäre beinahe richtig zu sagen: er nimmt es sich; aus sich heraus erschafft er seine richtenden Werte. Aber nichts ist vom Richtigen durch tiefere Abgründe getrennt als sein Beinahe, diese schielende Kategorie eines genügsamen und selbstgefälligen Erkennens. Denn tatsächlich werden im Essayisten seine Maße des Richters erschaffen, doch er ist es nicht, der sie zum Leben und zur Tat erweckt: es ist der große Wertbestimmer der Ästhetik, der immer Kommende, der nie Angelangte, der einzig zum Richten Berufene, der sie ihm eingibt.“ (17)

Nüchternere Poetiken des Essays verzichteten auf den Traum von einer welthistorischen Figur, die den „Werten“ und „Maßen“ wieder ihr unbestrittenes Richteramt verschaffen würde. Sie haben die von Lukács postulierte – in der Logik der Gattung tatsächlich angelegte (18) – eschatologisch-ästhetische Letztinstanz als verschwiegen umkreiste Zentralstelle leer gelassen und sich mit jenem „Beinahe“ eines „genügsamen und selbstgefälligen Erkennens“ begnügt – pragmatist in der philosophischen Schriftstellerei Amerikas des neunzehnten Jahrhunderts; ironisch-dandyistisch in der gleichzeitigen britischen Essayistik; „postmodern“ in der Gegenwart; in jedem Fall aber subjektiv und ohne den prophetischen Anspruch auf kulturelle Allgemeingültigkeit, mit dem Lukács den literarischen Rang der Gattung zu rechtfertigen versuchte – und ihre künftige Entwicklung damit auch belastet hat.

Ein gewisser Hang zumindest des deutschen Essays zu stilistischem Pomp und begrifflicher Hochstapelei stammt jedenfalls aus unbegriffenen Restbeständen des ästhetischen Fundamentalismus, mit dem Georg von Lukács die Form 1911 erneut aufgeladen hatte. Den hinweisend-rühmenden Essay des gegenwärtigen literarischen Prominenzbetriebs zum Beispiel, eine Art Festrednergattung, die ebenfalls allgemein als Hochliteratur empfunden und prämiert wird, unterscheidet Georg Stanitzek in seinem Buch „Essay – BRD“ als „epideiktisch“ von avantgardistischeren, schnelleren, ironischen, mit Populärkultur, avancierter Theorie, radikaler Politik, zeitgenössischer Kunst, Fotografie und Film intertextuell verbundenen Formen des Essayistischen, für die in seinem Buch die Oeuvres Michael Rutschkys, Alexander Kluges, Herbert Achternbuschs und Helmut Höges stehen. Sie beziehen sich nur noch kritisch oder ironisch auf das Gedankendrama oder das „Recht zum Gericht“. (19)

Überhaupt ist die Geschichte der nicht-fiktionalen Literatur durch überraschende Rückgriffe und Wiederaufnahmen geprägt. Das weltliterarisch früheste Analogon dessen, was in der angelsächsischen Literatur als personal essay bezeichnet wird, entsteht – als scheinbar kunstlos verfaßte Reflexionen über alltägliche Vorkommnisse, Schicklichkeit, Moral, Ästhetik und persönliche Befindlichkeiten – in der japanischen Hofgesellschaft des Hochmittelalters, am Kyotoer Kaiserhof der Heian-Zeit mit dem „Kopfkissenbuch“ der Hofdame Shinagon, das eine Tradition der japanischen Literatur bis heute begründet hat. „Zuihitsu“ („dem Pinsel folgen“) ist der Gattungsname dieser diaristisch-privaten Literatur, die sich aus dem inneren Unabhängigkeitsethos des konfuzianischen „Gentleman“ (Max Weber) herzuleiten scheint und in China mit dem essayistischen Werk Lu Xuns und in Japan mit beispielsweise demjenigen Junichirobi Tanizakis in die literarische Moderne führt. Die subjektiven Methoden der Gedanken- und Textorganisation bei europäischen Renaissanceschriftstellern wie Montaigne könnte man sich inspiriert denken aus einer – der japanischen vergleichbaren – Wendung persönlicher Autonomie und individuellen Problembewusstseins gegen die institutionalisierten höfischen Systeme der Geltung und des Prestiges; wobei die philosophische Rechtfertigung und Inspiration dieser Haltungen in einer ähnlichen Weise aus der Neustoa stammt wie sie in Japan konfuzianisch (und später auch Zen-buddhistisch) geprägt war. Neben Plutarchs Dialogen sind die moralphilosophischen Schriftsteller der römischen Spätstoa – Seneca, Epiktet und Marc Aurel – generell das wichtigste antike Vorbild des Renaissance-Essays.

Im frühen neunzehnten Jahrhundert entwickelt sich aus den Korrespondenz- und Rezensionsorganen frühmoderner Wissenschaft eine literarische und philosophische Publikationsindustrie (20). „Der literarische Tagesbetrieb hatte sich hundertfünfzig Jahre lang um die Zeitschriften bewegt“, schreibt Walter Benjamin in „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“. „Gegen Ende des ersten Jahrhundertdrittels begann sich das zu ändern. Die schöne Literatur bekam durch das Feuilleton einen Absatzmarkt in der Tageszeitung.“ Nicht nur der Feuilletonroman (den man beim Blättern auf dem Umweg über den Anzeigenteil aufschlug) entstand, sondern auch eine Kultur literarisch gemeinter, wenn auch nicht als „große“ Literatur anerkannter Sachtexte, eben die des Feuilletons. „Die Information brauchte wenig Platz; sie, nicht der politische Leitartikel noch der Roman im Feuilleton, verhalf dem Blatt zu dem tagtäglich neuen, im Umbruch klug variierten Aussehen, in dem ein Teil seines Reizes lag. Sie mußte ständig erneuert werden: Stadtklatsch, Theaterintrigen, auch ‚Wissenswertes‘ gaben ihre beliebtesten Quellen ab.“ (21) Das (freilich erst 1925 gegründete) amerikanische Essay-Magazin „The New Yorker“ bildet mit Kolumnen wie „The Talk of the Town“ oder auch mit ihrem berühmten Logo – der Karikatur eines britischen „Regency“-Dandys von Rea Irwin – das publizistische Umfeld historistisch-ironisch nach, in dem die essayistische Sachtextgattung im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich und England zu erscheinen begann. Baudelaire publizierte seine kunstkritischen Essays in Zeitschriften mit Namen wie „L’esprit public“, „Le Pays“, „La Revue Francais“, „La Revue Fantaisiste“ oder im „Figaro“; die Essays seiner britischen Zeitgenossen Charles Lamb, Thomas De Quincy, Leigh Hunt und William Hazlitt erschienen in „The London Magazine“, „The Examiner“, „The New Monthly Magazine“. „The London Weekly Review“ oder in der „Times“. Größere essayistische Schriften wie Samuel Taylor Coleridges „Biographia Literaria“, Baudelaires „Der Salon von 1846“ oder Hazlitts „Liber Amoris“ wurden auch bereits als selbständige Bücher veröffentlicht.

Die heute noch gültigen Gattungsmerkmale des modernen personal essay entwickelten sich in dieser Zeit: autobiographisches Bekenntnis; sprezzatura (22); elegant-sorgloser, persönlich motivierter Umgang mit wissenschaftlichen Inhalten; assoziative und idiosynkratische Organisation des Materials; Flanerie; Kürze; Paradoxie; Interesse an der Großstadt, an Mode und an der bildenden Kunst. „On going a Journey“ (Hazlitt), „Getting up on Cold Mornings“ (Leigh Hunt), „The Praise of Chimney-Sweepers“ und „A Dissertation on Roast Pig“ (Lamb) sind typische Titel einer „kleinen“ Literatur, die viel gelesen aber wenig ernstgenommen unter dem Radar der gebildeten Leser und der Literaturkritik (die derweil mit den naturalistischen Fiktionen des „großen“ historischen oder des zeitgenössischen Gesellschaftsromans beschäftigt war) durch das neunzehnte Jahrhundert reiste. Sie umfaßt Boxreportagen (Hazlitts „The Fight“) ebenso wie medizinische Erfahrungsberichte (De Quincys „Confessions of an English Opium-Eater“ und Baudelaires „Les paradis artificielles“); Reiseberichte; autobiographische Dokumentationen erotischer Besessenheit (Hazlitts „Liber Amoris“); literarische Manifeste (Coleridges „Biographia Literaria“).

In den deutschen Ländern war die Öffentlichkeit im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert kleiner, verstreuter – und philosophischer. Metropolen wie London oder Paris gab es nicht. Die Gebildeten lebten als Geistliche, Pädagogen und Beamte isoliert und weit voneinander entfernt, oft in kleinen Dörfern oder auf einsamen Landgütern, in Dutzenden von reichsunmittelbaren Städten, Fürstentümern und Königreichen des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation (und weit darüber hinaus, besonders in Russland). Individuelle Korrespondenz und Verständigung durch literarisch-philosophische Zeitschriften gewannen in dieser bildungssoziologischen Situation etwas von einer intellektuellen Überlebensstrategie. „Lieber Bruder! Ich bin gewiß, daß Du indessen zuweilen meiner gedachtest, seit wir mit der Losung – Reich Gottes! voneinander schieden. An dieser Losung würden wir uns nach jeder Metamorphose, wie ich glaube, wiederkennen“, schreibt Friedrich Hölderlin 1794 aus dem thüringischen Waltershausen an seinen Studienfreund Georg Wilhelm Friedrich Hegel, den es in die Schweiz verschlagen hatte. (23) Hölderlins Korrespondenz ist typisch für die Dringlichkeit und die hohen philosophischen – geradezu messianischen – Erwartungen, die das intellektuelle Kommunikationsbedürfnis in Deutschland prägen. Die Themen und Motive des deutschen Idealismus und der von Weimar und Jena ausstrahlenden Literaturbewegungen beherrschen die deutsche Publizistik – wenn man von den damals ebenfalls entstehenden „Journalen des Luxus und der Moden“ absieht (24), die sich derweil an gleichzeitigen französischen und britischen Publikationstypen orientierten und zahlreiche Leserinnen erreichten. Die wenigen Beiträger und Leser der philosophisch-literarischen deutschen Zeitschriftenpublizistik dagegen – Schillers „Horen“ und das frühromantische „Athenäum“ ragen als die einflußreichsten heraus – fanden sich in Zirkeln und Korrespondenznetzwerken von Intellektuellen zusammen. Das zugleich Gesellige und Esoterische, das die Literatur und die Philosophie der klassisch-romantischen Periode in Deutschland von gleichzeitigen intellektuellen Entwicklungen in Europa unterscheidet (25), geht auf diese Zirkel zurück und prägt auch den deutschen Essay der späteren Goethezeit. Schon Johann Georg Hamann erhob eine schwer verständliche „Schreibart der Leidenschaft“ zum Prinzip seines Essayismus, Friedrich Schlegel wird der Unverständlichkeit einen programmatischen Essay widmen. Eine Art philosophischer Insider-Literatur entstand, die auf ihre Unzugänglichkeit für das Allgemeinpublikum ebensoviel Wert legte wie auf ihre Evidenz für eingeweihte Freundeskreise (Schlegels „Gespräch über die Poesie“ benutzt das gemeinsame esoterische Philosophieren auch als literarische Darstellungsform).

Für die moderne Entwicklung der creative non-fiction steuert der Essay der klassisch-romantischen deutschen „Kunstperiode“ von Hamann bis Schlegel trotz seiner absichtlichen Schwerzugänglichkeit ein sehr folgenreiches Moment bei. Walter Benjamin hat es in seiner Dissertation über den „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ dadurch bestimmt, daß für Schlegel und Novalis Kunst- und vor allem Literaturkritik „in ihrer zentralen Absicht nicht Beurteilung, sondern einerseits Vollendung, Ergänzung, Systematisierung des Werks, andererseits seine Auflösung im Absoluten“ sei (26). Kritische Reflexion bereichert die Kunstwerke (für die es deshalb vorteilhaft ist, wenn sie Fragmente geblieben sind). Der Leser von Literatur wirkt an ihrer Vollendung mit. Die Idee einer Offenheit von literarischen Kunstwerken für ihre Fertigstellung durch den Betrachter – eine Idee, die auch auf Philosophien und Gegenstände zu übertragen nahe lag – wurde in Deutschland bald wieder vergessen. Jenseits des Atlantiks jedoch wurde dieser Gedanke für den transzendentalistischen und pragmatistischen Essay Amerikas anregend.

Deutsche Philosophie und Wissenschaft, das Werk Goethes, die deutsche Romantik waren überhaupt ein wichtiger Einfluß in den frühen USA. Die Söhne der Gründerväter interpretierten Immanuel Kants Erkenntnistheorie als Alternative zum Empirizismus Lockes und zum Utilitarismus der „Harvard Divinity School“, den sie als überholt und unfruchtbar empfanden. Kants Postulat „transzendentaler“ Erkenntnis wurde zur Bezeichnung für die Intentionen eines jüngeren, aktivistischeren, individuelleren und subjektiveren Amerika – für diese Autoren bürgerte sich die Bezeichnung „transcendentalists“ ein. Philosophische Klubs in Boston und Concord führten die frühromantischen Zirkel und ihre gesellige Form des gemeinsamen Nachdenkens fort. Freilich ohne deren exklusiven Anspruch. Ralph Waldo Emerson, der berühmteste public intellectual des nachrevolutionären Amerika, entwickelte in Essays wie „Nature“, „History“, „The American Scholar“ oder „Self-Reliance“ eine Methodik des aktivistischen, zugleich öffentlichen und subjektivistischen – und vor allem politischen – Umgangs mit Bildungsinhalten, der eine „priority of democracy to philosophy“ (Richard Rorty) zum Leitbild erhob und als Weiterentwicklung der romantischen Kunstkritik gelesen werden kann. „In every work of Genius we recognize our own rejected thoughts; they come back to us with a certain alienated majesty. Great works of art have no more affecting lessons than this. They teach us to abide by our spontaneous impression with good-humoured inflexibility then most when the whole cry of voices is on the other side.“ (27)

Emerson Essays waren auf mündliche performance angelegt. Er trug sie – vor zahlendem Publikum, das ihn zu einem wohlhabenden Mann machte – als säkulare Predigten in den amerikanischen Nordstaaten und auf Reisen auch in Europa vor. Ihr ermutigender, anarchistischer und individualistischer Denkstil beeinflußte den der amerikanischen Demokratie. Sein Einfluß ist heute noch spürbar, vor allem in der prominenten Rolle, die der personal essay in der amerikanischen Literatur und im amerikanischen Bildungswesen spielt. Essays in der Montaigne-Tradition prägen das Werk zum Beispiel John Ashberys, Susan Sontags und Joan Didions. Personal essayism ist eine geschätzte Gattung des amerikanischen Journalismus und das Schreiben von essays eine gängige Arbeitsform in der Universitätsausbildung. Der in Amerika zum intellektuellen guten Ton gehörende „New Yorker“ widmet sich der Gattung schwerpunktmäßig. Ebenso wie Short Stories werden „The Best American Essays“ von wechselnden Herausgebern jährlich ausgewählt und verkaufen sich gut. In der verbreiteten Bereitschaft von Autoren und Leserinnen, sich auf einen nicht-fiktionalen und subjektiven literarischen Zugang zu alltäglichen Erfahrungen einzulassen, wirkt der befreiende Impuls Ralph Waldo Emersons nach. Auch der schon erwähnte „New Journalism“ hat den klassischen Essay weiterentwickelt. Die amerikanische Kultur hat den individuellen Denkstil, der im Renaissance-Essay zuerst erschienen ist, als allgemein akzeptierte literarische Möglichkeit verinnerlicht. Der experimentelle Denkstil der transcendentalists und der wenig späteren pragmatists hat in den USA die essayistische Kultur hervorgebracht, die den Frühromantikern als deutsche Möglichkeit vorgeschwebt haben mag (28).

In Großbritannien dominierte im späteren neunzehnten Jahrhundert zunächst eine Spielart des kulturkritischen Essays, für deren Exponenten – Matthew Arnold, Thomas Carlyle, John Ruskin, Walter Pater – der Literaturwissenschaftler John Holloway 1953 den Begriff der „Victorian Sages“ fand. Die Schriften dieser viktorianischen Präzeptoren bezogen philosophische und theologische Einsichten oder kunsthistorische Ideale kulturkritisch auf gesellschaftliche Probleme. Sie wurden allgemein verehrt, intensiv gelesen und gaben nicht nur den Ton der britischen kulturellen und politischen Öffentlichkeit an, sondern arbeiteten überhaupt die Ideologien und Themen aus, die in den politisch imperial, ökonomisch freihandelsorientiert und kulturell eklektizistisch gesonnenen europäischen Ancien Régimes (von denen das viktorianische England nur das erfolg- und einflußreichste war) als das allgemein und fraglos Akzeptierte galten. Als ein deutsches Gegenstück zu den impersonal essays der „Victorian Sages“ könnten Arthur Schopenhauers „Parerga und Paralipomena“ gelten, freilich mit dem Unterschied, daß Schopenhauer nicht für seine Zeit zu sprechen beanspruchte, sondern nur für sich selbst. Friedrich Nietzsche dagegen eröffnete mit seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ in den frühen siebziger Jahren den Angriff einer jungen Generation auf die „Bildungsphilister“, wie er die deutschen Kollegen der viktorianischen Weisen nannte. Während Nietzsche sich aber in den Jahrzehnten bis zu seinem Zusammenbruch als Herold (und später Heiland) einer neuen, revolutionären Kultur (und vielleicht Religion) verstand und diese Rolle in den Literaturformen des Gedankendramas und dann zunehmend der Verkündigung, Prophetie und Apokalypse zum Ausdruck brachte, verband eine etwas spätere britische Generation, zu der George Bernard Shaw, Gilbert Keith Chesterton, Max Beerbohm, Virginia Woolf und Lytton Strachey gehörten, ihren Angriff auf die britischen Weltweisen mit selbstkritischer Nüchternheit, common sense, sarkastischem Humor und einer Wiederentdeckung des personal essay. Dessen subjektive, ironische, dandyistische Respektlosigkeit inspirierte schon das britische Gegenstück zu den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“: die (ebenfalls vier Stücke umfassende) Polemik „Eminent Victorians“ von Lytton Strachey.

Die literaturkritischen Essays Chestertons und Virginia Woolfs nahmen in den letzten Jahrzehnten der Regierungsperiode Viktorias und der kurzen Regierungszeit Edwards II. bis zum ersten Weltkrieg Partei für den Geschmack dieser jungen Bildungsschichten. Er war das Gegenteil der utopischen, messianischen, zivilisationskritischen Träume und Ressentiments des „Ringvereins“ – jener der von Nietzsche faszinierten und von Adorno ironisierten Generationen in Deutschland. Stattdessen dachten und schrieben sie privatistisch, unkonventionell, an moralphilosophischen Systemen und „großer“ Philosophie desinteressiert, empfänglich für Komik, Paradoxe und stilistische Eleganz. Beerbohms Essay „Quia Imperfectum“ – er verbindet das Lob des Fragmentarischen mit einer subtilen Dekonstruktion Goethes – ist ein gutes Beispiel für die Ablehnung titanischer „Geistigkeit“ durch die „skeptische Generation“ der Edwardian Era: „a man whose career was glorious without intermission, decade after decade, does sorely try our patience“ (29). Stattdessen brachten diese Leser, Publikationen und Autoren den literarischen Subjektivismus zu neuen Ehren. „What Mr. Beerbohm gave was, of course, himself“ schrieb Virginia Woolf. „This presence, which has haunted the essay fitfully from the time of Montaigne, had been in exile since the death of Charles Lamb. Matthew Arnold was never to his readers Matt, nor Walter Pater affectionately abbreviated in a thousand homes to Wat. They gave us much, but that they did not give. Thus, some time in the nineties, it must have surprised readers accustomed to exhortation, information, and denunciation to find themselves familiarly addressed by a voice which seemed to belong to a man no larger than themselves. He was affected by private joys and sorrows, and had no gospel to preach and no learning to impart. He was himself, simply and directly, and himself he has remained. Once again we have an essayist capable of using the essayist’s most proper but most dangerous and delicate tool. He has brought personality into literature, not unconsciously and impurely, but so consciously and purely that we do not know whether there is any relation between Max the essayist and Mr. Beerbohm the man.“ (30)

Die französischen Erben der europäischen Essay-Tradition des neunzehnten Jahrhunderts sind im zwanzigsten zunächst die Surrealisten und später die Situationisten gewesen. In Aragons „Le paysan de Paris“ und André Bretons „Nadja“ verwandeln sich Pariser Allerweltsgegenden in mythologische Seelenlandschaften. Ein persönlicher Zugang zur großstädtischen Alltagswelt, der im Essayismus des neunzehnten Jahrhunderts (auch durch die Beschränkung, die ihm sein publizistischer Erscheinungsort auferlegte) noch an lebensweltliche Verständlichkeit gebunden war, radikalisierte sich in den Seelenzuständen, auf die es den Surrealisten ankam, zu exzentrischen literarischen Phantasmagorien. „C’ était un soir, vers cique heures, un samedi: tout à coup, c’en est fait, chaque chose baigne dans une autre lumière et pourtant il fait encore assez froid, on ne pourrait dire ce qui vient de se passer. Toujours est-il que le tout des pensées ne saurait rester le même; elles suivent à la déroute une préoccupation impérieuse. On vient d’ouvrir le couvercle de la botte. Je ne suis plus mon maître tellement j’eprouve ma liberté. Il est inutile de rien entreprendre. Je ne mènerai plus rien au-delà de son amorce tant qu’il fera ce temp de paradis. Je suis comme un joueur assis à la roulette.“ (31) Die veränderte Beleuchtung der Stadtlandschaft löst eine profane Erleuchtung aus. Unter ihrem Einfluß erscheint die Pariser Vorstadt mythologisch, prophetisch, erotisch und poetisch. Die unabsehbare Bedeutsamkeit, die Aragons Phantasmagorie trivialen Gegenden abgewinnt, gibt verdrängte Bedeutungsschichten der Wirklichkeit frei. Walter Benjamin würde in seinem „Passagenwerk“ den Versuch unternehmen, den surrealistischen Blick Aragons als eine Methode marxistischer Soziologie zu etablieren.

Die surrealistische Anregung bringt in den zwanziger Jahren in Deutschland eine Blüte der creative non-fiction hervor, die wie Aragons „Paysan de Paris“ ihre Themen in der Großstadt findet. Die Flanerien Franz Hessels gehören ebenso zu dieser heute weitgehend vergessenen Literaturtradition wie das einzige genuin surrealistische Buch in deutscher Sprache, die zweite Fassung von Ernst Jüngers „Das abenteuerliche Herz“. Ernst Blochs „Spuren“, Walter Benjamins „Berliner Kindheit um 1900“ und seine „Einbahnstraße“ sind andere Beispiele. Noch Friedrich Sieburgs Reiseessaybuch „Gott in Frankreich?“, ein bildungsbürgerlicher Verkaufserfolg von 1929, der noch in den fünfziger Jahren viel gelesen wurde, oder seine Reisefeuilletons „Der Blick durchs Fenster“ (1956) scheinen in ihrer subjektiven Erzählhaltung und der diskontinuierlichen Materialorganisation Erinnerungen an die surrealistischen Einflüsse aufzubewahren.

Gottfried Benns stilistisch bedeutende und atmosphärisch suggestive Essays der späten zwanziger und die (erst nach dem Krieg veröffentlichten) aus den dreißiger und vierziger Jahren sind dagegen vom Expressionismus beeinflußt. Nietzsches Verkündigungspathos verbindet sich in poetischen Sachtexten wie „Weinhaus Wolf“, „Der Ptolemäer“ und „Doppelleben“ mit dem Stil des Offizierskasinos und bringt lakonische Verlautbarungen von überraschender Prägnanz und Komik hervor. Die Haltung isoliert reflektierender Zeitgenossenschaft verbindet Benns Essays mit der Tradition des personal essay. Allerdings verlieren sich seine gedankendramatischen Exerzitien in heute wenig relevant erscheinenden Unterscheidungen wie der zwischen „Leben“ und „Geist“ und gehen von unsympathischen begrifflichen Voraussetzungen wie „Rasse“, „Züchtung“, „historischer Größe“ und „Dekadenz“ aus. Dieser Gleichklang mit dem nationalsozialistischen Zeitgeist bewahrte seine Essays nicht vor der Verdammung durch die NS-Kulturbehörden. Keine Literaturgattung ist – beiden – Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts verdächtiger gewesen als die fragmentarische, subjektive, unberechenbare und poetische sprezzatura der creative non-fiction. Aber auch die von der „Gruppe 47“ und ihrem politischen Moralismus dominierte deutsche Nachkriegsliteratur hatte zum subjektiven Essay kein Verhältnis. Allenfalls die Reisestücke Wolfgang Koeppens lassen sich der Gattungstradition irgendwie zuordnen. Die personal essayists der zwanziger Jahre, die in den fünfziger Jahren noch veröffentlichten – Jünger, Benn und Sieburg – galten (und gelten meist heute noch) der deutschen Mehrheitsmeinung als politisch diskreditiert.

In den letzten Jahrzehnten hat das Interesse für creative non-fiction wieder zugenommen. Der Anstoß für dieses Interesse ging in Deutschland bezeichnenderweise von nicht-deutschen Autoren und Kritikern aus. Bereits in den achtziger Jahren sind die Reisefeuilletons Ryszard Kapuscinskis in literarischen Verlagen erschienen und vom deutschen Feuilleton als Literatur rezensiert worden. Die Karrieren der ehemaligen SPIEGEL-Reporterin Marie-Luise Scherer und der taz-Autorin Gabriele Goettle sind Parallelfälle am Rand des Literaturbetriebs. Auf dem Umweg über die amerikanische und britische Anerkennung wurden W.G. Sebalds „Bücher ohne Familiennamen“ (Michael Rutschky im „Merkur“ 55, 2001; Sebald selbst bezeichnete seine Arbeiten als „Prosabücher unbestimmter Art“) (32) – auch in Deutschland als Literatur akzeptiert. Gegenwärtig wird in Feuilleton-Diskussionen über das Werk Karl Ove Knausgårds die Faszination für dessen nichtfiktionale Literatur begründet mit einem unbestimmten Gefühl, das fiktionale Dispositiv habe sich erschöpft. Oft wird das neue Unbehagen an Fiktionalität lebensgeschichtlich-psychologisch motiviert: „Männer hören mit ungefähr 50 Jahren auf, Belletristik zu lesen und sich für neue Popmusik zu interessieren.“ (33) 2008 löste die deutsche Ausgabe von J.M. Coetzees Roman „Diary of a Bad Year“ (2007), in dem essayistische Einschübe ein romanartiges Narrativ sozusagen überwuchern, gattungstheoretische und rezeptionsästhetische Suchbewegungen der deutschen Literaturkritik aus: Coetzee, so interpretierte es beispielsweise Lothar Müller, „hetzt den Essay in das Terrain des selbstzufrieden gewordenen Romans, um dort Unruhe zu stiften“ (34).

In der Form eines Manifests hat der amerikanische Schriftsteller David Shields 2010 schließlich dem naturalistischen Fiktionsmodell einen vollgültigen Totenschein ausgestellt und postuliert, daß es ersetzt werden müsse durch den personal essay einerseits und andererseits durch eine literarische Version der Sampling-Technik zeitgenössischer Popmusik. David Shields erneuert Nietzsches Konzept des Gedankendramas. „The essay is the theatre of the mind“, schreibt er. „The motor of fiction is narrative. The motor of essay is thought. The default of fiction is storytelling. The default of essay is memoir. Fiction: no ideas but in things. (Serious) essay (what I want): not the thing itself, but ideas about the thing.“ (35) Dieses Mantra schreibt – noch einmal – einer nichtfiktionalen Gattung dieselben intellektuellen Aufgaben zu, die das Drama in der naturalistischen Literatur zu erfüllen hatte. „Damit hängt ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit zusammen. Der personal essay erfindet nicht eine Welt. Er schildert, wie Menschen mit der Welt und mit dem Leben geistig zurechtkommen. Intuitionen, Gedanken, Ideen, persönliche Obsessionen verhalten sich in diesem theater of the mind ähnlich wie erfundene Personen im Handlungsgeflecht des realistischen Romans.“ (36) Das erklärt die durchgehende Anwesenheit einer realen Person, des Autors, auf der literarischen Bildfläche. Denn nicht fiktionale Gestalten und Situationen, sondern subjektive Gedanken, Erinnerungen und Spekulationen bilden in dieser Literaturform die Bühne der Ideen. Vom Leben des Autors und dessen Erzählung zehrt die Lebendigkeit, die Ideen in der essayistischen Literatur gewinnen. In legitimierenden Prunkzitaten, die Text und Gedankengang des Essayisten begleiten, haben sie eine Art Körperlichkeit angenommen. Die Faktur der begrifflichen Erzählprosa selber ist in eine Doppelbeleuchtung zwischen Begrifflichkeit und Lebensfiktion geraten. Michael Rutschkys Essays zum Beispiel, schreibt Georg Stanitzek, „verwenden erzählende Kunstprosa insofern regelwidrig, als sie diese bereits vom Gesichtspunkt der Auswahl her mit Erklärungen durchsetzt erscheinen lassen“. (37) Die „postmoderne“ Kontingenz gesellschaftlich akzeptierter Ideen wird in diesem Zwielicht sichtbar. In einem ironischen, vom amerikanischen neopragmatism beinflußten intellektuellen Klima kann dieses Verfahren als ein Vorzug gelten.

Der historische Abriß belegt, daß die von Alltagsverständnis und Literaturbetrieb unbesehen für gültig gehaltene Gleichung zwischen Fiktionalität und Literarizität nicht aufgeht. Ein Desiderat künftiger Sachbuchforschung scheint darin zu bestehen, die Begründung eines Kunstanspruchs von Texten – über die hier behauptete Parodie naturalistischer Verfahren durch das „Gedankendrama“ hinaus – in einer Weise „tieferzulegen“, die ihn auch für nichtfiktionale Literatur plausibel macht – und damit genauere Einsichten in die Funktion von Kunst ermöglicht als das allgemeine Vorurteil darüber, was künstlerische Literatur sei. Hierfür gibt es einige inspirierende Ansätze. Es wäre bei Überlegungen in dieser Richtung auszugehen von den „Unbestimmtheitsstellen“, die Roman Ingarden bei der Untersuchung von Gegenständen oder Personen konstatiert hat, die in literarischen Kunstwerken auftauchen (38). Anders als bei einem realen Weltinhalt, dessen Beschaffenheit und aktuelle Erscheinung im Prinzip unendlich genau bestimmt werden kann, wenn man ihn den entsprechenden (chemischen, physikalischen, anatomischen, perspektivischen, psychologischen) Analysen unterwirft, kann man zum Beispiel von einer literarischen Figur nur das mit Bestimmtheit aussagen, was im literarischen Werk über sie angegeben wird. Alle anderen Bestimmungen muß sich der Leser dazudenken. Und er tut das unwillkürlich auch, so daß es zum Beispiel von einem literarischen Satz, den Ingarden in seiner phänomenologischen Untersuchung improvisiert – „An einem Tische saß ein älterer Mann“ – so viele subjektive Versionen gibt, wie Menschen, die ihn gelesen haben. In einer ist der Tisch aus Holz, in einer anderen ist er aus Eisen, in einer hat der Mann einen Bart, in einer anderen nicht. Undsoweiter. Diese notwendige Unbestimmtheit „literarischer Objekte“ führt auf eine Bestimmung des Literarischen, die schon Immanuel Kant aufgefallen ist, der in dem (unter Kunsttheoretikern berühmten) § 49 der „Kritik der Urteilskraft“ die „ästhetische Idee“ bestimmt als eine „Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr noch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“ Dieser Ausblick ins Unaussprechliche mithilfe von Kunst kommt durch eine Verdoppelung der Welt zustande. „Wir halten fest, daß es auf die Erzeugung einer Differenz zweier Realitäten ankommt, oder anders gesagt: auf die Ausstattung der Welt mit einer Möglichkeit, sich selbst zu beobachten. Aber dafür gibt es mehr als nur eine Möglichkeit, vor allem auch Religion.“ (39) Die Erscheinung der Welt in der Welt durch Kunst, die eine einleuchtend geordnete, aber von der Welt unterschiedene Gegenwelt bietet, ist der Grund für die „Familienähnlichkeit“ (Wolfgang Ullrich) der Literatur mit bestimmten mystischen Erfahrungen und für die Neigung der Kunst zur Kunstreligion. Ludwig Wittgenstein hat diese Familienähnlichkeit in seinen philosophischen Notizbüchern am 7.10. 1916 mithilfe eines Begriffs von Baruch Spinoza festgehalten: „Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; (…) Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Gegenstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeternitatis von außerhalb. So daß sie die ganze Welt als Hintergrund haben.“ (40) Von hier aus wäre weiterzudenken. Neben der Parodie des naturalistischen Literaturmodells durch das Gedankendrama könnte sich dann die meditative, humoristische oder psychoanalytische Hinwendung der sprezzatura zum Alltäglichen, Abseitigen, Idiosynkratischen, Unbedachten und Unbeachteten als ein literarisches Verfahren erweisen, dem auch die hohen Weihen nicht abzusprechen sind. (41)

1) Dabei begünstigte es den Anerkennungsprozeß fiktiver Literatur, daß ihr in einem kulturellen Kampf um Kunstautonomie eine Avantgardeposition zufiel. „Es ist die literarische Front gegenüber wissenschaftlichen Texten, an der Wahrheitszumutungen am ehesten aufkommen und daher im Interesse eines kunsteigenen Aussagenbereichs zurückgewiesen werden müssen“ Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 293
2) Heinz Schlaffer,: Das Sexhagium und die Zechkunst. Wo das Denken in Rubriken vorherrscht, bleiben die Zwitter aus Poesie und Wissen auf der Strecke. Über den Essay als literarische Form der Kostprobe. In: Süddeutsche Zeitung 10.5. 2004. Hier auch die etymologische Ableitung des Worts „Essay“ vom lateinischen „sexhagium“, einer Warenprobe
3) Helmut Lethen prägte den Begriff für die zwanziger Jahre, Frankfurt/M. 1994
4) zit. in: Stephan Wackwitz: „Ich stelle mich so ziemlich dar. Hipster, coolness und New York. In: Merkur 743 (April 2011), S. 319-327
5) „Er hat den Vorzug, hochgebildet zu sein und gleichzeitig verständlich zu schreiben“ rühmt Frank Schirrmacher dem Essayisten Werner Ross in der FAZ nach. Zit. in: Georg Stanitzek: „Essay – BRD“. Berlin 2011, S. 90; „Gewiß kommen weder Verständlichkeit noch Bildung unmittelbar als literarische Werte in Betracht“, kommentiert Stanitzek.
6) „Ecce Homo“ Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988. Band VI, S. 281
7) S. 348
8) Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und die Folgen. München 2007, S. 45
9) Hannelore Schlaffer: Der kulturkonservative Essay im 20. Jahrhundert. In: Hannelore Schlaffer und Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt/M. 1975, S. 140-173
10) Jürgen Habermas: Der Diskurs der Moderne. Frankfurt/M. 1985, S. 121
11) KSA 5, S. 9
12) KSA 6, S. 352
13) Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Frankfurt/M. 1951, S. 174 f
14) Georg von Lukács: „Über Wesen und Form des Essays“, In: „Die Seele und die Formen“, 1911, Nachdruck Neuwied und Berlin 1971; „Tatsächlich eröffnet Lukács’ Arbeit eine Reihe philosophisch-essayistischer Stellungnahmen, denen auch und gerade die disziplinäre Literatur zum Thema wichtige Anhaltspunkte verdankt – sei es in Form einfacher Stichworte und typischer Formeln, sei es in der Form komplexer Fragestellungen. Selbst die nach wie vor ungeklärte Frage nach der Beziehung zwischen Wissenschaft und Essay geht auf Lukács zurück.“ Stanitzek, Essay – BRD S. 33
15) Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1996
16) Lukács, S. 15
17) Lukács, S. 28 f
18) „Die Essayisten … träumen vom Schweigen, weil aus ihm die Macht hervorgeht, die sie gern hätten“; zum Komplex des heimlichen Kunstfundamentalismus des Essays s. Michael Rutschky: „Wir Essayisten“ in „Reise durch das Ungeschick und andere Meisterstücke, Zürich 1990, S. 204
19) obwohl Michael Rutschky noch 1990 den Essay bestimmt als „eine spezifische Mischung aus lyrischer Selbstdarstellung, Erzählprosa und Argumentationsdrama“ Michael Rutschky, Wir Essayisten, in: Reise durch das Ungeschick und andere Meisterstücke, Zürich 1990, S. 210
20) Zur Entstehung dieser schriftlichen Form der Öffentlichkeit T.C.W. Blanning, Das Alte Europa 1660-1789. Kultur der Macht und Macht der Kultur. Darmstadt 2006; hier auch eine instruktive Auseinandersetzung mit „der einflußreichsten Habilitationsschrift, die je gedruckt wurde“ (Blanning), derjenigen Jürgen Habermas’ über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“
21) Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Frankfurt 1980, I,2, S. 528f
22) Hazlitt lobt „Beau“ Brummels sprezzatura; und liefert gleichzeitig eine Beschreibung der essayistischen Methode: „All his bons-mots turn upon a single circumstance, the exaggeration of the merest trifles into matters of importance, or treating everything else with the utmost nonchalance and indifference, as if whatever pretended to pass beyond those limits was a bore and disturbed the serene air of high life“, Selected Writings (The Penguin English Library, London 1982, S. 430
23) Friedrich Hölderlin: Kleine Stuttgarter Ausgabe VI, S. 138
24) Neben begeisterten Leserinnen und Lesern sind auch prominente Kritiker der Mode-Journale wie etwa Johann Gottfried Herder hervorgetreten, der befürchtete, dass ‚verderbliche Modejournale, die durch stets veränderten Aufwand den häuslichen Wohlstand untergraben, das Gemüth eitel machen, so der Gesundheit, Moralität und aller bessern Zweckhaftigkeit schaden’ (Adrastea 11, 1803)“ zit. bei Johannes Mangel in „Thüringen. Blätter zur Landeskunde“ der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen 2015 (104)
25) So hat Dieter Henrich, sozusagen von Tag zu Tag, nachgezeichnet, wie der deutsche Idealismus in brieflichen und mündlichen Diskussionen zwischen Hölderlin, Hegel, Sinclair und Schelling entstanden ist, zum Beispiel in D.H.: Hegel und Hölderlin. In: Hegel im Kontext. Frankfurt/M. 1975, S. 9-40
26) Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Neuausgabe der Dissertation von 1919 Frankfurt/. 1973, S. 72
27) Ralph Waldo Emerson: Self-Reliance. In: R.W.E.: Nature. London 2008. S. 86
28) Stephan Wackwitz: Über Unverständlichkeit. Neue Rundschau 2011, Heft 3, S. 190-205
29) The Prince of Minor Writers. The Selected Essays of Max Beerbohm. New York 2015, S. 99
30) Virginia Woolf, Selected Essays. Oxford 2008. S. 17
31) Louis Aragon: Le paysan de Paris“, Paris 1926, Nachdruck 1953, S. 11
32) SPIEGEL 11/2001, S. 230
33) Mit diesem Bonmot zitiert Michael Angele im „Freitag“ am 15.10.2015 einen „Kollegen von der Welt“ und berichtet von einer Umfrage im Bekanntenkreis: „‚Ist meine Unlust an diesen Romanen eigentlich nur mein Problem?‘, fragte ich auf Facebook. Es stellte sich rasch heraus, dass es nicht nur mein Problem zu sein scheint. Viele meiner Freunde haben dem Roman den Rücken gekehrt, manche nur dem deutschen Gegenwartsroman, andere dem Gegenwartsroman überhaupt.“
34) Merkur 62 (2008), S. 703
35) zit. bei Stephan Wackwitz, Der selbstzufriedene Roman und das Theater des Geistes, taz 11.9.2010
36) S.W., Ebenda
37) Stanitzek, S. 134
38) Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Tübingen 1972, S. 261ff
39) Niklas Luhmann, a.a.O., S. 235
40) zit. bei: Thomas Rentsch: Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee. In: Helmut Bachmaier und Thomas Rentsch (Hrsg.): Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins. Stuttgart 1987. S. 347
41) Wie sich etwas so Alltägliches wie der morgendliche Blick aus dem Fenster sub specie aeternitatis ausnimmt, wäre zu beobachten zum Beispiel in Stephan Wackwitz: Mein bayerisches Mittelstandsamerika. In S.W.: Selbsterniedrigung durch Spazierengehen. Essays. Frankfurt/M. 202. S. 17-32