Über Unverständlichkeit

Neue Rundschau
03/2011

hrsg. von: Hans Jürgen Balmes, Jörg Bong, Alexander Roesler, Oliver Vogel

Über Unverständlichkeit

Im Davoser Sanatorium “Berghof” gerät Hans Castorp, ein angehender Ingenieur von intellektuell anspruchsloser Denkart, unter den erzieherischen Einfluß zweier prinzipienfester Herren. Thomas Manns Roman “Der Zauberberg” spielt auf dem Höhepunkt der europäischen Bürgerzivilisation vor dem ersten Weltkrieg. Der sympathischere der beiden Mentoren Hans Castorps heißt Lodovico Settembrini. Seine pädagogische Rhetorik wurzelt in den Grundsätzen, Tropen und Topoi der bürgerlichen europäischen Aufklärung im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Der Mensch, die Nation, die Wissenschaft, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – das sind die abstrakten Grundsätze, auf die alles bei ihm immer so unvermeidlich hinausläuft wie in der Kirche auf das Amen. Sein Gegenspieler heißt Naphta, und er vertritt die Prinzipien einer anderen Revolution. Seine Grundsätze sind komplizierter und etwa von der Art, wie sie heutigen Lesern aus den Schriften von Slavoj Zizek, Alan Badiou, Frederic Jameson bekannt sind, wie sie ihm bei Foucault, Deleuze/Guattari und dem späten Derrida entgegentreten. Naphta verkörpert eine Art apokalyptisch-dekonstruktivistischen Antihumanismus’, der seinen letzten Halt in katholischen und marxistischen Systemen findet.

Zwischen den beiden, die sich sozusagen um Hans Castorps Seele streiten, geht es nun in ermüdender Ausführlichkeit und Ergebnislosigkeit hin und her. Der Roman ist schon fast zuende, als eine dritte Figur die Szene betritt. Es ist Mynheer Peeperkorn, ein malariakranker kolonialholländischer Kaffeefabrikant. Mit ihm kommt ein neuer Ton in den Roman. Ein abgerissener Ton. Eine monumentale Unverständlichkeit. Denn so diametral unterschiedlich die beiden Prinzipienreiter Settembrini und Naphta sich vor ihrem Zögling einlassen, so eint sie doch ihre vollkommene Beherrschung der klassischen Rhetorik. Nicht nur die Beherrschung ihrer literarischen Methoden, das auch. Sondern vielmehr sind außerdem beide, Naphta und Settembrini, der ursprünglich platonischen Ansicht, daß die Überzeugungskunst nicht um ihrer selbst ausgeübt werden soll (das wäre die verpönte wertindifferente sophistische Technik, die schwächere Sache durch sprachliche und logische Tricks im politischen und juristischen Prozeß zur stärkeren zu machen). Sondern Settembrini wie Naphta glauben – mit Platon, Cicero und den Kirchenvätern – daß die rhetorische techne im Dienst der philosophischen oder theologischen episteme zu stehen hat und ihre Zuhörer in überzeugender, weil verständlicher und interessanter, Gedankenführung auf letzte Wahrheiten und Prinzipien leiten soll.

Peeperkorn dagegen hat von all dem keine Ahnung. Oder vielmehr: Es ist ihm egal. Ihm geht es um das Leben. Er schildert es als “ein hingespreitet Weib, mit dicht beieinander quellenden Brüsten (…), das in herrlicher, höhnischer Herausforderung unsere höchste Inständigkeit beansprucht, alle Spannkraft unserer Manneslust, die vor ihm besteht oder zuschanden wird”. Derart zusammenhängend wie in diesem Zitat formuliert er aber nur ganz selten. Meistens sagt er fragmentarisch-abgerissene Dinge. Zum Beispiel etwas wie: “Meine Herrschaften. – Gut. Alles gut. Er-ledigt. Wollen Sie jedoch ins Auge fassen und nicht – keinen Augenblick – außer acht lassen, daß – Doch über diesen Punkt nichts weiter. Was auszusprechen mir obliegt, ist weniger jenes, als vor allem und einzig dies, daß wir verpflichtet sind – daß der unverbrüchliche – ich wiederhole und lege alle Betonung auf diesen Ausdruck – der unverbrüchliche Anspruch an uns gestellt ist — Nein! Nein meine Herrschaften, nicht so! Nicht so, daß ich etwa – weit gefehlt wäre es zu denken, daß ich — Erledigt, meine Herrschaften! Vollkommen erledigt. Ich weiß uns einig in alledem, und so denn: zur Sache!” Peeperkorn äußert sich nicht rhetorisch, sondern schwer verständlich. Und auf dem Höhepunkt der Peeperkorn-Episode versteht man dann schlechterdings gar nichts mehr. Denn ein Wasserfall, zu dem die sämtlich lungenkranken Figuren des Romans vom Sanatorium “Berghof” hinausgewandert sind, übertönt eine der enthusiastisch abgerissenen, gestenreichen und zusammenhangsarmen Reden Mynheer Peeperkorns, von der wir bloß vermuten können, daß es in ihr wieder um das Leben und seine herrlich höhnischen Herausforderungen gegangen ist.

Die Figur Mynheer Peeperkorns ist ein kompliziert über die Bande gespieltes Zitat. Zunächst ein komisches. Denn das Äußere und die unverständlich-abgerissene Redeweise Mynheer Peeperkorns ist eine physiognomische Karikatur Gerhart Hauptmanns. Hinter dieser Karikatur jedoch steht ein zweites Zitat, das Thomas Mann ernster gemeint zu haben scheint. Denn zumindest das Äußere Gerhart Hauptmanns ist schon zu der Zeit, als dieser heute fast vergessene Großschriftsteller als der ultimative Repräsentant des deutschen Geistes verehrt wurde, als eine Wiederkunft der Gestalt Johann Wolfgang von Goethes geschildert worden. Das second-order Goethe-Zitat, das Mann mit dieser doppelten Ähnlichkeit in die komische Figur Mynheer Peeperkorns eingebaut hat, findet sich auch auf einer begrifflichen Ebene des Romans wieder. Peeperkorn nämlich ist als poetische Allegorie des Begriffs der “Persönlichkeit” konzipiert: “‘Persönlichkeit’ – man hatte das Wort beständig im Sinne angesichts seiner: man wußte auf einmal, was das war, eine Persönlichkeit, wenn man ihn sah, ja mehr noch, man war überzeugt, daß eine Persönlichkeit überhaupt nicht anders aussehen könne als er.”

Mit diesem Begriff und seiner komisch-allegorischen Ausgestaltung in der Peeperkorn-Figur ist eins der berühmtesten und folgenreichsten Gedichte der klassischen deutschen Überlieferung angespielt. Es findet sich im “West-Östlichen Diwan”. Goethe hat es, vielleicht nicht zufällig, einer Frau in den Mund gelegt. Suleika sagt:

Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gesteh’n, zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.

Jedes Leben sei zu führen,
Wenn man sich nicht selbst vermißt;
Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist.

Um die Begriffe der Persönlichkeit, des Lebens, der idiosynkratischen Identität, in deren biographischen Erhaltung das Glück bestehen soll, kristallisiert sich eine Diskussion, die sich als halb begrifflicher, halb lebenspraktischer Komplex durch die essayistische und philosophische Weltliteratur zieht. Man könnte in Anlehnung Thomas Manns “Zauberberg” von Peeperkornismus sprechen. Aber es ist wahrscheinlich seriöser, begrifflich an den berühmten Essay Friedrich Schlegels “Über die Unverständlichkeit” anzuknüpfen.

In diesem Essay, der 1800 im “Athenäum” erschienen ist, klingt Friedrich Schlegel ein bißchen wie ein Apologet Peeperkorns. Er verteidigt sich und seine Zeitschrift gegen den Vorwurf der abgerissenen, fragmentarischen Rede. Er tut es zwar einigermaßen zusammenhängend, aber immer noch abgerissen genug, um seinen Essay über die Unverständlichkeit wenigstens ziemlich schwer verständlich zu machen. Womit aber die Essayistik und Aphoristik der Frühromantik heute noch provoziert, ist vielleicht gar nicht so sehr ihre Methode, komplexe gedankliche Zusammenhänge fragmentarisch anzuspielen statt sie diskursiv auszuarbeiten. An dieses Verfahren scheinen wir heute viel gewöhnter zu sein als es das Lesepublikum um 1800 gewesen ist. Die eigentliche, und immer noch virulente, Provokation der frühromantischen Beiträger zum “Athenäum” besteht in einer personen- und gruppenabhängigen Konzeption von Wahrheit. Unauffällig, unter der Hand, als verstehe sich diese skandalöse Abschaffung von selbst und sei gar nicht der Rede wert, verabschieden sie den klassischen Wahrheitsbegriff und dessen Korrespondenztheorem. Das war charakterisiert durch die Auffassung der klassischen Erkenntnistheorie, daß eine wahre Aussage unabhängig von den Interessen, Begrenzungen, Irrtümern und Idiosynkrasien verschiedener Sprecher irgendwo out there exisistiere und wahr sei, weil sie sich mit den Realitäten deckt. Settembrini wie Naphta wären jederzeit beide auf die klassische Formulierung Thomas von Aquins zu verpflichten gewesen, “dass Wahrheit in der Übereinstimmung von Verstand und Sache besteht.” Andernfalls hätten sie sich gar nicht die Mühe gemacht den halben Roman hindurch über Grundsatzfragen zu streiten und sich zuletzt um ihretwillen sogar zu duellieren.

Peeperkorn – und (was theoretisch ergiebiger ist): Schlegel sehen das anders. Nicht das Verständnis einer objektiven Wahrheit, schreibt Schlegel, hält Systeme, Personen, Familien, Staaten zusammen. Die Einheit, das Selbstbewußtsein und die Handlungsfähigkeit von Personen und Gruppen gehen vielmehr darauf zurück, daß sie nur diejenigen Elemente und Aspekte der Wahrheit verstehen (verstehen wollen), die ihrer Selbstreproduktion zuträglich sind und daß sie alle anderen nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. “Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes?” fragt Schlegel. “Mich dünkt das Heil der Familien und der Nationen beruhet auf ihr; wenn mich nicht alles trügt, Staaten und Systeme, die künstlichsten Werke der Menschen, oft so künstlich, daß man die Weisheit des Schöpfers nicht genug darin bewundern kann. Eine unglaublich kleine Portion (der Unverständlichkeit, S.W.) ist zureichend, wenn sie nur unverbrüchlich treu und rein bewahrt wird, und kein frevelnder Verstand es wagen darf, sich der heiligen Grenze zu nähern. Ja das Köstlichste was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte. Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fodert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde.”

Erinnern wir uns noch einmal an die Vorgänge auf dem Zauberberg. Dort haben wir mit Hans Castorp seiten- und kapitellang verfolgen und nachvollziehen müssen, wie Settembrini und Naphta uns die Welt rhetorisch perfekt, in vollkommener logischer Verständlichkeit und immer umfassenderer Ausführlichkeit erklärt haben. Paradoxerweise sind wir darüber jedoch immer konfuser geworden. Je näher wir den letzten Prinzipien und Wahrheiten scheinbar gekommen sind, umso weiter haben sie sich zurückgezogen. Zum Schluß sind wir einfach nur nur müde gewesen und sehnten uns danach, ein Kapitel überspringen zu können, wenn Naphta und Settembrini wieder anfingen mit ihren Ableitungen von allem und jedem ob ovo et ad principium. Mynheer Peeperkorn dagegen, der dumme, unverständliche und “undeutliche” Mann, wie es mehrmals heißt, braucht nur aufzutreten, und ist schon das Zentrum aller Gespräche und aller Aufmerksamkeit der Leser und der Romanfiguren. Hans Castorp läuft sofort zu ihm über. Peeperkorn, es ist das ultimative poetologische Argument, gets the girl: er hat Clawdia Chauchat im Schlepptau. Er kümmert sich nicht um Philosophie und Rhetorik. Seine Wahrheit liegt in ihm selbst. Ihr Ausdruck ist ein poetisches, und zwar ein spezifisch modernes Verfahren: das bedeutsame Verstummen. “Perfekt!” oder “Genug!” ruft er aus, wenn ihm nichts mehr einfällt und er nichts mehr sagen muß, weil wir ihn längst verstanden haben oder ihn wenigstens irgendwie zu verstehen glauben. Und schließlich, unter dem Wasserfall, ist sein Ausdrucksmittel das ultimativ modernistische: das Verstummen und ein beredtes Schweigen, in dem nur noch die Welt selbst und ihr Rauschen zu Wort kommt, auf das sich jede und jeder seinen eigenen Reim machen kann. John Cage hätte an der Rede Peeperkorns unter dem Wasserfall seine modernistische Freude gehabt. Michael Rutschky hat in seinem essaypoetologischen Essay “Wir Essayisten” aus dem romantisch-essayistischen Verstummen Mynheer Peeperkorns den geheimen Klassizismus der ewig illegitimen Gattung des Essays abgeleitet. Und so ist es auch ein sehr peeperkornistischer Zug, daß Schlegels Essay über die Unverständlichkeit in einem Gedicht endet. Romantischer- und essayistischerweise in einem Gedicht, das ein schon geschriebenes Gedicht weiterdichtet.

Es wieder ein Gedicht von Goethe, vielmehr dessen zweite Strophe. Und es kann im Grunde nicht erstaunen, daß sich dieses Gedicht Goethes, “Beherzigung”, ebenso wie Suleikas Wechselgesangbeitrag über “Volk und Held und Überwinder” im West-Östlichen Diwan mit idiosynkratischer Lebenskunst, mit der Erhaltung des kleinen und zerbrechlichen Boots der “Persönlichkeit” in den Stürmen und den Wellen der Welt befaßt.

Ach, was soll der Mensch verlangen?
Ist es besser, ruhig bleiben?
Klammernd fest sich anzuhangen?
Ist es besser, sich zu treiben?

Soll er sich ein Häuschen bauen?
Soll er unter Zelten leben?
Soll er auf die Felsen trauen?
Selbst die festen Felsen beben.

Eines schickt sich nicht für alle!
Sehe jeder, wie er’s treibe,
Sehe jeder, wo er bleibe,
Und wer steht, dass er nicht falle!

Was Schlegel am Schluß von “Über die Unverständlichkeit” aus der letzten Stophe Goethes macht, ist eine “Glosse”. Über diese heute vergessene Gattung schrieb Oskar Ludwig Bernhard Wolff im “Poetischen Hausschatz des deutschen Volks” 1839: “Die Glosse, aus Spanien eingeführt, ist ein lyrisches, reflektierendes Gedicht, welchem ein gewöhnlich aus vier Zeilen bestehender Vers eines anderen Gedichts als Thema so zu Grunde gelegt wird, daß jede Zeile in genauer Reihenfolge mit einer Zeile des Themas schließt.” Schlegels Glosse auf Goethes “Beherzigung” ist meiner Ansicht nach eines der komischsten, mutigsten und gescheitesten Gedichte auf Deutsch. Erinnert es nicht schon geradezu an Benn oder an Robert Gernhard, wenn er schreibt:

Alle Narrheit kann ich leiden,
Ob sie genialisch knalle,
Oder blumenlieblich walle;
Denn ich werd’ es nie vergessen,
Was des Meisters Kraft ermessen:
Eines schickt sich nicht für alle.

Die “Kraft” des Meisters, also Goethes, hat ermessen, daß es keine objektive Wahrheit out there gibt, auf die das Athenäum und seine Kritiker sich gemeinsam verpflichten könnten. Goethe hat das nicht irgendwie intellektuell herausgefunden oder begrifflich abgeleitet. Seine Kraft hat es ermessen. Das durchaus auch philosophisch anspruchsvolle gemeinte und lebenspraktisch sehr folgenreiche Theorem “Eines schickt sich nicht für alle” ist das Ergebnis nicht der idealistischen Philosophie, sondern eines wirklichen, kraftvoll und idiosynkratisch gelebten Lebens. Das Gedicht Goethes könnte als Motto über dem Auftreten seiner späten second-order-Karikatur Peeperkorn im “Zauberberg” stehen. Und Schlegel appropriiert es in “Über die Unverständlichkeit” als Programm des künftigen intellektuellen Lebens, das seine Zeitschrift in Deutschland provozieren will. Es wäre das lustige, interessante, tolerante, kreative, individualistische, poetische, polemische, in einem Wort: das essayistische intellektuelle Leben gewesen, auf das wir, so will es mir manchmal scheinen, heute noch in Deutschland warten.

Manche müssen irre schweifen,
Viele Künstler werden platzen.
Jeden Sommer fliegen Spatzen,
Freuen sich am eignen Schalle:
Reizte dies dir je die Galle?
Laß sie alle selig spielen,
Sorge du nur gut zu zielen,
Und wer steht daß er nicht falle.

Jenes essayistisch-romantische intellektuelle Klima ist in Deutschland dann doch nicht zustande gekommen. Der Preis, den die Zeitgenossen Schlegels für seine Entfaltung hätten zahlen müssen, wäre eine Anerkennung der Unverständlichkeit gewesen. Eine Toleranz für, mehr noch: ein Interesse an und eine bewußte Förderung der Idiosynkrasien, die authentisch gelebtes Leben hervorbringt. Denn gelebt wird nur von Einzelnen und wer sich einmal von der klassischen Korrespondenztheorie der Wahrheit verabschiedet hat, lernt anerkennen, daß es soviele Wahrheiten über die Welt gibt, wie sich Menschen auf ihr befinden. “Laß Sie alle selig spielen.” Aber schon zwanzig Jahre später beherrscht die bierernste Debatte zwischen Marx und Engels einerseits und den bürgerlichen Demokraten andererseits die intellektuelle Szene, dessen spätes Echo in den endlosen Debatten Settembrinis mit Naphta nachklingt. Und Schlegel selbst war schon vorher katholisch und ein Anhänger des Ancien Régime geworden.

“Amerika, du hast es besser (…) Dich stört nicht im Innern/zu lebendiger Zeit/unnützes Erinnern/und vergeblicher Streit”, heißt es in den “Zahmen Xenien”. Machen wir es wie die Turmgesellschaft in Goethes “Lehrjahren”. Reisen wir über den Atlantik. Wer sich in Boston ein Auto mietet und eine Stunde nach Nordwesten fährt, kommt in eine Art amerikanisches Weimar, nach Concord/Massachusetts. An zwei strahlenden neuenglischen Herbsttagen bin ich im letzten Jahr durch dieses kleine Städtchen gewandert. Ich bin in Ralph Waldo Emersons Studierzimmer gestanden und habe an Goethes Haus am Weimarer Frauenplan gedacht. Der Hausstand des amerikanischen Goethe ist viel bescheidener, die Behausung einer fast studentisch-wohngemeinschaftsartigen Patchwork-Familie. Ich bin um den in Herbstfarben leuchtenden Walden-Pond gewandert, wo die Hütte Henry David Thoreaus stand, des amerikanischen Werthers. Ich war erstaunt darüber, wie nah diese angebliche Wildnis bei Concord liegt, nicht weiter als einen Spaziergang vom Stadtzentrum entfernt. Und ich war geradezu geschockt zu erfahren, daß die Bahnlinie, die hundert Meter entfernt vom Standort der Hütte Thoreaus durch den Wald fährt, schon damals in Betrieb war. Seine Naturanbetung, das sah ich jetzt mit eigenen Augen, hatte etwas Spielerisches und Ironisches. Fast als hätte sich Thoreau einen Witz mit uns erlaubt. Ich stand in der Küche des Pfarrhauses, in dem Emerson aufgewachsen ist und das Nathaniel Hawthorne später gemietet hat. Hawthorne war der Christoph Martin Wieland von Concord. Emerson und er haben später kaum mehr ein Wort miteinander gewechselt. Ich ging durch die Kinderzimmer der Alcotts, wo die Jugendbücher “Little Women” und “Little Men” spielen und wo Amos Bronson Alcott, der große Philosoph, Pädagoge und Utopist, nach seinen Kindern schaute. Hier in Concord hat sich eine Gruppe von amerikanischen Goethe-fans im frühen neunzehnten Jahrhundert vorgenommen, eine nationale Kultur zu schaffen, die sich um den Begriff der Persönlichkeit und der Demokratie kristallisieren sollte.

Der “New England Transcendentalism” benutzte für dieses Projekt Kants Begriff transzendentaler Anschauung nicht als strengen erkenntnistheoretischen Begriff, sondern polemisch, nämlich gerichtet gegen den sensualistischen Empirizismus der um 1830 in Amerika unbestritten einflußreichen Harvard Divinity School und der unitarischen Kirche. Deren Gewährsmann war Locke, der davon ausging, daß das menschliche Bewußtsein so etwas sei wie ein leeres Blatt Papier, das von den sinnlich gewonnenen Eindrücken im Lauf des Lebens vollgeschrieben werde. Nihil est in intellectu, quod non sit prius in sensu lautet die Maxime des Sensualismus und mit ihrer Anerkennung erweist sich Locke als philosophischer Klassizist in der Nachfolge der Korrespondenztheorie Aristoteles’ und Thomas von Aquins. Den Transzendentalisten dagegen scheint die klassische, Locke’sche und unitarische 1:1-Anbindung der Inhalte des Kopfs an die Inhalte der Welt zuwenig Freiraum für die kreative Selbsttätigkeit des Intellekts gelassen zu haben, auf die es ihnen ankam. Sie riefen einen nur halb verstandenen Kant als transatlantischen Kronzeugen für eine romantisch-heroische Selbsttätigkeit des Geistes und des Lebens auf. “Zu lebendiger Zeit”, nämlich am Vorabend des Bürgerkriegs, war es ihnen das Wichtigste, jenseits einer engen Bindung an das Vorgegebene ein utopisches Amerika zu projektieren, und für die Verwirklichung dieses romantischen Projekts wollten sie die Grenzen des sinnlich Vorgegebenen und der prinzipiengeleiteten philosophischen Gedankenführung nicht anerkennen.

Emerson, dessen Großvater aus den Fenstern seines Hauses die ersten Schüsse der Amerikanischen Revolution gehört und das erste Gemetzel der Schlacht von Concord und Lexington beobachtet hatte, verteidigt in seinem berühmtesten Essay, “On Self-Reliance”, die Unverständlichkeit so beredt wie Schlegel und fast so abgerissen wie Mynheer Peeperkorn: “A foolish consistency is the hobgoblin of little minds, adored by little statesmen and philosophers and divines. With consistency a great soul has simply nothing to do. He may as well concern himself with his shadow on the wall. Speak what you think now in hard words, and to-morrow speak what to-morrow thinks in hard words again, though it contradict every thing you said to-day. — ‘Ah, so you shall be sure to be misunderstood.’ — Is it so bad, then, to be misunderstood? Pythagoras was misunderstood, and Socrates, and Jesus, and Luther, and Copernicus, and Galileo, and Newton, and every pure and wise spirit that ever took flesh. To be great is to be misunderstood.” Und er beglaubigt die inconsistency, wie die Unverständlichkeit 1839 in Concord hieß, mit einem Argument, daß wir schon von Peeperkorn und Schlegel kennen. Letztbegründung der Unverständlichkeit sind das Leben und die Natur: “I suppose no man can violate his nature.” Emerson ist ein amerikanischer Peeperkorn der Philosophie. Seine ungeheuren Folgen gezeitigt hat er weniger in der internationalen Philosophiegeschichte, als in der Realgeschichte und Mentalitätsgeschichte seines Landes. Viel von der Toleranz, dem Enthusiasmus, der utopischen Gesinnung, die sich dortzulande bis heute zeigt, viel von der amerikanischen Leistungsfähigkeit und Freundlichkeit, allerdings aber auch viel von der unrealistischen Hau-Ruck-Mentalität und der esoterischen Selbstvergötzung der Amerikaner ist von Emerson inspiriert.

Wir haben Concord mit Weimar verglichen. Wenn Emerson im Kontext des amerikanischen neunzehnten Jahrhunderts die strukturelle Leerstelle Goethes innehatte, dann könnten wir ein Analogon des Athenäumkreises nach dem Bürgerkrieg hundert Kilometer östlich von Concord besichtigen. Das Jena der klassischen amerikanischen Philosophie lag um 1870 herum in Cambridge, einem Vorort von Boston, der die Harvard-University beherbergt. Dort traf sich von Januar bis Dezember ein informeller Diskussionszirkel. Seine Mitglieder waren in ähnlicher Weise von Emersons lebenspraktischem und antisystematischem Peeperkornismus beeinflußt und ermutigt, wie sich die Frühromantiker auf Goethe bezogen. Es war der “Metaphysical Club”, dem Louis Menand 2002 ein wunderbares Buch gewidmet hat. William James, einer von diesen jungen Leuten, hat 1907 diesen Diskussionszirkel junger Harvard-Studenten in einer Reihe von Vorlesungen als den Ursprungsort einer neuen Philosophie idealisiert. Es war der american pragmatism. Die beiden anderen maßgebenden Mitglieder des Kreises waren Oliver Wendell Holmes, ein Veteran des Bürgerkriegs, der später einer der bedeutendsten Juristen des Landes werden sollte und Charles Sanders Pierce, ein Mathematiker und Logiker, der als Begründer der Semiotik gilt. Bertrand Russel schrieb über ihn, er sei einer der originellsten Denker des späten neunzehnten Jahrhunderts gewesen. William James war der Bruder des Romanciers Henry James. Und seine zweite Vorlesung von 1907 über “Pragmatism, a new word for some old ways of thinking” beginnt ausgesprochen romanhaft. Auf den zweiten Blick hat die romanhafte Eingangsszene viel Ähnlichkeiten mit der Szene am Wassserfall in Thomas Manns “Zauberberg”, von der diese Überlegungen und Konjekturen ihren Ausgang nahmen.

Wir befinden uns auf einer längeren Bergwanderung. James, erzählt er, war ausgeschwärmt vom Basiscamp und als er zum Rest der Ausflugsgesellschaft zurückkehrt, die sich offenbar gelangweilt hat und auf dumme Gedanken gekommen ist, findet er “everyone engaged in a ferocious metaphysical dispute”. Der metaphysische Streit, der seine zurückgebliebenen Bergkameraden in ebensoviele Settembrinis und Naphtas gespalten hat, ist eigentlich ein bißchen albern. Es geht um die logische und ontologische Position eines Eichhörnchens, das von einem Beobachter um einen Baum gescheucht wird. Interessanter ist die Lösung, die von seinem Spaziergang zurückgekehrte James vorschlägt. Sie nämlich wurde zu einer der berühmtesten Formulierungen der amerikanischen Philosophie. James schreibt: “What difference would it practically make to anyone if this notion rather than that notion were true? If no practical difference whatever can be traced, then the alternatives mean practically the same thing, and all dispute is idle. Whenever a dispute is serious, we ought to be able to show some practical difference that must follow from one side or the other’s being right.” Wir kennen diese Argumentation bereits. Ihr theoretischer Fluchtpunkt ist kein Prinzip, sondern das Leben, auch wenn vielleicht nicht unbedingt als “ein hingespreitet Weib, mit dicht beieinander quellenden Brüsten”, wie es Mynheer Peeperkorn vorgeschwebt hatte. Trotzdem: der american pragmatism ist der – vielleicht paradoxe – Versuch, etwas so Widersprüchliches, Unklares, Situations- und Subjektabhängiges, etwas, mit einem Wort so Unverständliches wie “das Leben” theoretisch ernstzunehmen. Das letzte Wahrheitskriterium der Pragmatisten ist nicht abstrakt, sondern lebenspraktisch.

Und für mich wird es Zeit, mit der These herauszurücken, auf die das Bisherige beharrlich zugelaufen ist. Sie besteht in meiner Vermutung, daß im neunzehnten Jahrhundert in Amerika eine Allianz zustandegekommen ist zwischen jenen “some old ways of thinking”, die James, Pierce, Dewey und Holmes um 1870 herum “Pragmatismus” getauft haben und der Tradition des personal essay, die von Seneca bis Joan Didion durch die Literaturgeschichte reist. Allianzen formieren sich um gleiche Interessenlagen. Und das gemeinsame Interesse alles lebenspraktischen Denkens seit der Stoa wie aller personal essays seit Montaigne besteht in der Verteidigung der Unverständlichkeit, genauer: in der Parteinahme für die idiosynkratischen, nicht ableitbaren, nicht zurechnungsfähigen und wegen all dieser Unzuverlässigkeiten eben lebendigen Impulse, Intuitionen, Gedanken, Obsessionen, Träume, Begehrlichkeiten, Perversionen und Verliebtheiten realer Menschen. Der Pragmatismus hat philosophisch wahrscheinlich zu machen versucht, was Hans Castorp im Zauberberg instinktiv wußte: daß nämlich weder Settembrini noch Naphta die abschließend gültige Weltformel besitzen. Sondern daß es stattdessen darauf ankommt, connaisseur möglichst vieler Weisen des Lebendigseins zu werden. Und noch in einer weiteren Angelegenheit wird es jetzt Zeit für mich, Klartext zu reden. Peeperkorn, Schlegel, Emerson, die american pragmatists – alle berufen sich unentwegt auf “das Leben” und ich habe das einfach so übernommen. Aber: was ist das eigentlich, das Leben?

In den Büchern Richard Rortys ist der american pragmatism in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts – nach einer langen Vorherrschaft der analytischen Philosophie an den amerikanischen Universitäten – glanzvoll wieder auf den ersten Lehrstühlen der USA vertreten worden. Übrigens haben bei dieser Renaissance deutsche Philosophen, Hans-Otto Apel und Jürgen Habermas vor allem, ebenso mitgewirkt, wie deutschen Philosophen an der Wiege des pragmatism standen. In seinem Hauptwerk “Contingency, irony and solidarity” zitiert Richard Rorty ein zutiefst trauriges und pessimistisches Gedicht Philip Larkins. Der lyrische Sprecher fragt sich, was von seinem ganz eigenen inneren Speditionsverzeichnis, von der “lading list” seines Lebens in der Stunde seines Todes übriggeblieben sein wird. Wo werden sie geblieben sein, die Überreste seines inneren Lebens? All die idiosynkratischen Vorlieben, Obsessionen, Gedichte, Liebesgeschichten und Ansichten? Larkin spricht in diesem Gedicht, das hat Rorty sofort gesehen, als pragmatist. Denn er sieht diese Vorlieben, Obsessionen, Gedichte, Liebesgeschichten und Ansichten als mehr oder weniger gelungene Versuche, mit zufälligen und blinden autobiographischen Prägungen innerlich zurande zu kommen. Und seine Angst besteht darin, daß diese Versuche ihn nicht überleben werden.

… in time
We half identify the blind impress
All our behavings bear, may trace it home.
But to confess

On that green evening when our death begins,
Just what it was, is hardly satisfying.

“The contingency of selfhood”, das Kapitel seines Buchs, das mit dem Gedicht Larkins beginnt, ist Rortys Versuch, den hoffnungslosen Larkin mit der Überlegung zu trösten, daß alle Posten auf einer individuellen “lading list” zwar wirklich zufällig sind. Sie gehen auf blinde Zufälle zurück: Armut, unsensible Eltern, einfühlsame Eltern, verführerische Mitschülerinnen, fiese Mitschüler, nette Mitschüler. Die Familie, die Klasse, die Stadt, das Zeitalter, in dem eine oder einer zur Welt gekommen ist. Es sind manchmal auch ausgesprochen anrüchige Güter auf dieser “lading list” verzeichnet. Rorty nennt “sexual perversion, extreme cruelty, ludicrous obsession, and manic delusion” als psychische Artefakte, mit deren Hilfe jemand schlimmstenfalls mit seinen blinden Prägungen zurechtgekommen sein mag. Und gerade Larkins Leben ist ein Beispiel dafür, aus wie unansehnlichen und abstoßenden blinden Prägungen große Kunst entsteht. Aber Rorty erinnert Larkin und uns nicht nur an die poetische Alchemie, aus Scheiße Gold zu machen, sondern auch daran, daß man dieses Gold in einen allgemeinen Umlauf bringen kann. “To sum up, poetic, artistic, philosophical, scientific, or political progress results from the accidental coincidence of a private obsession with a public need. Strong poetry, commonsense morality, revolutionary morality, normal science, revolutionary science, and the sort of fantasy which is intelligible to only one person, are all, from a Freudian point of view, different way of dealing with blind impresses.”

Das Leben, so könnten wir die Frage beantworten, was eigentlich das Leben sei, besteht zunächst nur in ungeordneten, kaum bewußten, absolut zufälligen Eindrücken, Wunden, Phantasien, die oft so unverständlich, idiosynkratisch und nicht nachvollziehbar sind wie Mynheer Peeperkorns Äußerungen oder die Fragmente des Athenäum. Was Goethe und Emerson als “Persönlichkeit” vorschwebte, wäre dann eine Verarbeitung dieser Prägung in Lebensstilen, Obsessionen, Kunstwerken, Kindern, Wohnungen. Und ein gelungenes, weil von anderen Lebendigen verstandenes Leben schließlich entstünde in einer Art interpersonellem Gnadenakt. Die Obsessionen, Gedichte, Perversionen, Theorien, die heroischen Taten, Kinder, Wohnungen, Vermögen nämlich, die aus individuellen und unverständlichen blinden Prägungen entstanden sind, würden aufgenommen in die ebenso blind entstandenen Obsessionen, Gedichte, Perversionen, Theorien, in die heroischen Akte, Kinder, Wohnungen, Vermögen anderer Menschen. Das könnten Leser sein oder politische Bürger, Liebhaber oder Dichter, Entrepreneurs oder Pädagogen, Generäle oder Innenarchitekten. Jene Prägungssymptome sind zufällig entstanden, die blinden Zufälle des Schicksals drücken sich fragmentarisch und abgerissen in ihnen aus. Und doch können sie für anders geprägte Individuen dann plötzlich für den Auf- und Ausbau ihrer eigenen Symptom- und Metapherngebäude brauchbar sein. Noch einmal Richard Rorty: “We call something ‘fantasy’ rather than ‘poetry’ or ‘philosophy’ when it revolves around metaphors which do not catch on with other people – that is around ways of speaking or acting which the rest of us cannot find a use for.” Naphta und Settembrini haben für Peeperkorns Unverständlichkeit keinen geeigneten Gebrauch in ihren eigenen Lebensmetaphern finden könnne. Nur deshalb können sie “nichts mit ihm anfangen”, nicht etwa deshalb, weil Peeperkorn dumm wäre oder nichts vom wahren Zustand der Welt wüßte. Hans Castorp aber benutzt Peeperkorns Leben und Tod für eine metaphorische Neuformulierung seines Lebens. Denn er kann sich, seit er Freundschaft mit ihm geschlossen hat, sagen, daß er einen Grund hatte, so lange auf Clawdia Chauchat zu warten. Er hat gewartet, so kann er es sich jetzt zurechtlegen, nicht um wieder mit ihr zu schlafen, sondern um mit ihr einen Bund für Peeperkorn zu schließen. Etwas Sinnloses hat jetzt einen Sinn. Er hat sein Peeperkorn-Erlebnis dazu benutzt, die Metaphern, mit denen er sein Leben deutet, neu zu formulieren.

An dieser Stelle möchte ich Rortys Beispiel in “Contingency, irony and solidarity” folgen. Ich möchte aufhören, als Philosophie- und Literaturhistoriker zu sprechen und zum Abschluß meiner Überlegungen ein paar Abschnitte lang als Literaturkritiker sprechen. Ich habe vorhin angedeutet, daß Friedrich Schlegels Plädoyer für die Unverständlichkeit im frühen 19. Jahrhundert eine lebendigere, lustigerere, spielerischere, eine mit einem Wort essayistische Kultur hätte hervorbringen können und daß diese Chance durch ein Übermaß an objektivem Idealismus versäumt worden ist. Daß dagegen der personal essay in Amerika eine so große und reiche Tradition hat, scheint mit jener Allianz zusammenzuhängen, die er im neunzehnten Jahrhundert mit dem Pragmatismus eingangen ist, und in der es bis heute darum geht, die Unverständlichkeit des Lebens vor dem Angriff der Prinzipien zu retten. Diese Allianz gleicht seltsamerweise jener anderen, dem fiktionalen Freundschaftsbund, den Hans Castorp und Clawdia Chauchat in Thomas Manns “Zauberberg” für den undeutlichen Mynheer Peeperkorn schließen, den wiederum die Theoretiker Naphta und Settembrini in seltener Einmütigkeit verachten. Rorty, der in “Contingency, Irony and Solidarity” alle Strategien des kreativen Umgangs mit blinden Prägungen philosophisch als gleichwertig ansieht, macht als Literaturkritiker, als “Stratege im Literaturkampf” einen wichtigen Unterschied. Er hält, wie wir gesehen haben, Romane, Gedichte, personal essays für politisch wirksamere Literaturgattungen als philosophische Abhandlungen. Ideen sind für pragmatists so etwas wie Werkzeuge. Und literarische Werke scheinen Rorty wirksamere Werkzeuge für die Herstellung einer demokratischen Kultur als theoretische Bücher.

Wenn Adorno in seinem essaypoetologischen Essay feststellte, der Essay habe in Deutschland keine Tradition, seine Gesetze würden nicht verstanden und selten beachtet, dann meinte er den personal essay jener romantisch-pragmatistischen Tradition, die wir gerade kennengelernt haben. Er blüht in Amerika wie nirgends sonst auf der Welt. Die deutsche Essayistik dagegen ist durch ein rationalistisches Mißverständnis von Aufgeklärtheit gleichsam gefesselt. Wie ja auch Lodovico Settembrini, der ängstliche Verteidiger der Klarheit, Helligkeit und Verständlichkeit gegen den “Quertreiber” Naphta, einem rationalistischen Mißverständnis über seine eigenen Prinzipien erliegt. Hier im IZEA arbeitet man, wenn ich es recht verstehe, daran, dieses Mißverständnis über die Aufklärung aufzuklären und ihr etwas von der Unverständlichkeit zurückzugeben, die sie wieder interessant macht. Denn nicht nur Johann Georg Hamann, sondern auch Karl Philipp Moritz, Goethe, der frühe Friedrich Schlegel waren große connaisseurs der Unverständlichkeit. Deutsche Essays jedoch sind seit dem heroischen Mißerfolg des “Athenäum” allzu häufig nicht aus produktiver Unverständlichkeit gemacht, sondern aus den Einsichten, die sich jede und jeder zur Not auch selbst hätten zurechtlegen können. Aus political correctness. Und oft hat man nichts anderes vor sich als literarisierte und subjektivierte Leitartikel. Diese Art von Essayistik ist zu verständlich, als daß sie dem Leben gerecht werden könnte. “A foolish consistency is the hobgoblin of small minds.” Denn wahr sind, wie Adorno in den “Minima Moralia” wußte, nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen. “So bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches”, schrieb der Stammvater meiner Gattung, “es ist nicht billig, daß du deine Muße auf einen so eitlen und geringfügigen Gegenstand verwendest”. Hinter dieser ostentativen Bescheidung steckt eine wilde Hoffnung. Es ist die tollkühne Wette darauf, daß die idiosynkratische Sicht auf die Welt, die das Zentrum jedes personal essay ist, Leserinnen und Leser finden könnte, die die unverständlichen Symptome meiner blinden Lebensprägungen für ihre eigene Selbsterschaffung verwenden werden. Was also sind personal essays? Man könnte es in der heroischen Rhetorik Heiner Müllers sagen: “einsame Texte, die auf die Geschichte warten”. Aber es wäre fast noch verwegener und es würde uns pragmatists besser gefallen, wenn wir es – auch angesichts der Tatsache, daß die Geschichte vermutlich nicht lesen kann – eine Nummer kleiner machen könnten. Etwa so: personal essays sind sind einsame Texte, die einfach nur auf eine Leserin oder einen Leser warten, die vorbeikommen und meine Unverständlichkeit so plötzlich und untrüglich verstehen, wie Clawdia Chauchat und Hans Castorp ihren Freund und Geliebten Mynheer Peeperkorn noch jedesmal verstanden haben, wenn er seine essayistischen Abgerissenheiten inszenierte.