Heinz Bude, embedded sociologist.

In seiner Habilitationsschrift über das “Altern einer Generation” – einem der großen Bücher über die Bundesrepublik unserer Lebenszeit – portraitiert Heinz Bude die “cordbehoste Radikalität” der Achtundsechziger-Generation (das Bonmot stammt aus einem seiner Fernsehauftritte) am Beispiel einer Figur, die er “Klaus Bregenz” nennt. “Bregenz” ist ein marxistischer Soziologieprofessor, der nach großen Erfolgen in den frühen Siebzigerjahren inzwischen an der Folgenlosigkeit seiner politischen Wissenschaft verzweifelt und depressiv-nihilistisch resigniert hat. Bude zeichnet ihn als einen gescheiterten “Tüftler”. Der Typus des Tüftlers erweist sich im Fortgang seiner Argumentation als ein verstecktes Lévi-Strauss-Zitat. Denn der Typus des Tüftlers ist konstruiert durch seine Unterscheidung von dem des durch Claude Lévi-Strauss folgenreich eingeführten des “Bastlers”. “Der Tüftler” schreibt Bude, “gleicht dem Bastler darin, dass er verschiedene Dinge nach und nach zu einem Ganzen zusammenbaut. Aber es fehlt ihm im Gegensatz zum Bastler das freie Verhältnis zur Kontingenz. Der Tüftler erfindet keinen Zusammenhang, sondern er vertieft sich in ihn. Er insistiert auf einen ganz bestimmten Punkt und versucht von da aus, die Architektonik eines Denkgebäudes zu entschlüsseln. Der Bastler kann Lücken lassen, der Tüftler muss Lücken schließen. Zufrieden ist er erst, wenn das Systematische der Sache erwiesen ist.” Die im Interviewportrait jenes Klaus Bregenz vergleichweise beiläufig eingeführte Tüftler/Bastler-Unterscheidung markiert eine weit über ihren Anlass hinauswirkende Unterscheidung wissenschaftlicher, religiöser und mentaler Kulturen. Tüftlerkulturen sind reduktionistisch, monokausal, hierarchisch, folgerichtig, auf universale Folgerichtigkeiten orientiert. Deshalb aber auch zu geistiger Enge, Dogmatismus, Gewalt geneigt: schwäbischer Pietismus, leninistischer Marxismus, Rassismen und Faschismen aller Art. Bastlerkulturen dagegen sind holistisch, rechnen mit zahlreichen, größtenteils unbekannten Ursachen, sind anarchisch, pragmatisch, kompromissbereit, paradoxietolerant, intuitiv, auf Möglichkeiten orientiert: Parlamentarismus, Kybernetik, Hippietum, american pragmatism. Man könnte die jüngere Geschichte der Bundesrepublik und vieler anderer westlicher Gesellschaften anhand der Taxonomie Tüftler/Bastler beschreiben. Es ist zum Beispiel keine Übertreibung zu sagen, dass die frühen bundesrepublikanischen Generationen – diejenigen, die durch eine “Einwanderung ins eigene Land” hindurchmussten, bevor sie sich in der Bundesrepublik innerlich eingebürgert haben – diesen inneren Vorgang autobiographisch durch Bekehrung vom Tüftler- zum Bastlertum erlebten. Konkret und vereinfacht: von der Überzeugung, dass der Kapitalismus an allem schuld ist, zur halb ungläubig akzeptierten Beobachtung, dass es nicht auf möglichst genaues Erkennen “eines ganz bestimmten Punkts” ankommt, worauf sich angeblich alles löst, sondern auf das Aushandeln von Widersprüchen, deren Ursachen nicht beseitigt werden können. Autobiographisch-tragistisch formuliert: Tüftlerkulturen haben mein Leben zerstört, bis ich verstanden habe, dass das Leben in Wirklichkeit eine Art autopoetische Laubsägearbeit ist. Diese Bekehrung hat sich nicht nur in meinem Leben im Lauf der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts vollzogen und sie war in meinem Fall begleitet von der Bekanntschaft mit Heinz Bude und seinen Büchern. Im Gespräch mit ihm und Karin Wieland begegnete mir eine Offenheit für Widersprüche, ein fast in Budes Mimik und Körperhaltung sichtbares “Hineinspringen” in konkrete intellektuelle Problemlagen und Dissenssituationen. Budes Denken hat etwas Existentialistisches. Sie hat das Leben am Schlafittchen. Diese Lebendigkeit unterschied sich wohltuend von der scholastischen Schlechtgelauntheit neubekehrter Westbindungsmentoren, von denen man das Gefühl haben konnte, dass sie die Widersprüche der Demokratie – die mich um 1995 herum zu gutgelauntem Bastlertum aufriefen – stattdessen zu behandeln geneigt waren wie leninistische Tüftler den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Bude wusste vor allem nicht immer alles besser und schon im Vorhinein, wie die Tüftler, denen man sich nur anschließen kann oder sich mit ihnen verkrachen. Im Gespräch mit ihm durfte erstmal alles kommen, wie es war, und sein Recht beanspruchen. Bevor dann freilich auch die andere Seite der Medaille betrachtet wurde. Undsoweiter. Dass Heinz Bude also auf emphatische Weise kein Tüftler war und ist, bedeutet allerdings natürlich auch nicht, dass er jemals den Bastlern hätte zugerechnet werden können, denn die Bastler sind keine Profis. Sie kennen, wie es Lévi-Strauss geschildert hat, die in der Historie der Wissenschaften und Gewerke ausgearbeiteten Werkzeuge, Terminologien und Taxonomien nicht. Sie nehmen für ihre Ausdrucks- und Selbstausdrucksprojekte stattdessen das her, was gerade zur Hand ist und verarbeiten es als Zeichen dessen, was sie meinen. Es ist dann meistens schon irgendwie erkennbar, was die Bastler meinen und darstellen wollen, aber es wirkt mehr wie von einem verrückt gewordenen Archimboldo gemalt als wie von Titian. Bude dagegen – dessen Vorträgen und Diskussionen man so gerne lauscht wie denen des amerikanischen Historikers Stephen Kotkin oder des Literaturwissenschafters Heinz Schlaffer – hat bei der exploratorischen Entfaltung seiner Argumente den gesamten Begriffs- und Argumentationshorizont nicht nur seiner eigenen Wissenschaft – der Soziologie – virtuos und mühelos zur Hand, sondern auch den der Philosophie, des Politikbetriebs, der Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte. Und trotzdem, und wiederum: er handhabt all dieses Begriffswerkzeug mit einer Art mimetischer Sympathie für das Bastlertum. Denn die bastlerische Ausdrucksnot ist ja auch eine Stärke. Und für diese Stärke hat Bude Sinn und Geschmack. Lassen wir, um die Natur der Bastlerstärke näher zu beleuchten, einen berühmten Bastler der klassischen literarischen Moderne zu Wort kommen: Hans Castorp, die unbedeutende Hauptfigur in Thomas Manns “Zauberberg”. Er stottert in die professionellen Diskurse seiner Lehrer Lodovico Settembrini und Leo Naphta mit seinen Fragen und schüchternen Einwürfen eher hinein als dass er “auf Augenhöhe” zu parieren und zu partizipieren verstünde. Und trotzdem liegt in seinem Gestotter meistens das Entscheidende verborgen. “Ich schwatze da Unsinn, aber ich will lieber ein bisschen faseln und dabei etwas Schwieriges halbwegs ausdrücken, als immer nur tadellose Hergebrachtheiten von mir geben”, sagt er zum Beispiel, als es um den niederländischen Milliardär Pieter Peeperkorn geht und Settembrini Hans Castorp wegen seiner Freundschaft mit dem erfolgreichen Nebenbuhler um die Gunst Clawdia Chauchats zur Rede stellt. Und siehe da: Hans Castorps Gebastel, Geschwätz und Gefasel hat wieder einmal – irgendwie – Recht. Und zwar auf eine Weise, die im professionellen Ausdruckshorizont nicht ganz aufging, nicht ganz hineinpasste, nicht ganz sichtbar wurde. Bastlerinnen sehen etwas, was ihnen zwar undeutlich einleuchtet, das sie aber nicht richtig zu fassen bekommen, oft deshalb nicht, weil es noch unbekannt ist und vom Radar der wissenschaftlichen Werkzeuge und Vokabulare noch nicht erfasst. Im wissenschaftlichen Horizont kann dieses schon Sichtbare, aber noch nicht Bestimmte nur Zufall heißen, unwichtig, Störfaktor, Messfehler. Bastler machen mit ihrem Faseln auf das aufmerksam, das bei Adorno das “Nichtidentische” hieß. Essayisten zum Beispiel sind Bastler. Aber das ist eine andere Geschichte. Doch das Hans-Castorp-Exempel trägt noch weiter, und überraschenderweise tatsächlich in eine essayistische Richtung. Denn worum geht es zwischen Castorp und Settembrini? Vordergründig, wie gesagt, um Peeperkorn. Aber in Wirklichkeit um ein Mysterium, um etwas, das der Bastler Castorp schon ganz deutlich zu sehen glaubt, aber nicht richtig zu fassen bekommt. Castorp führt in seiner Apologie Peeperkorns das Leben ins Feld, eine zugleich undeutliche und unwiderlegliche Sache, etwas, worüber man besser faseln als Wissenschaft treiben kann. Und er greift zu einem Begriff aus dem achtzehnten Jahrhundert – dem der Persönlichkeit – die Goethe in einem berühmten Gedicht des “West-Östlichen Divan” als das “höchste Glück der Erdenkinder” inthronisiert hatte. Peeperkorn verkörpert das als idiosynkratische Persönlichkeit geführte Leben, private perfection (wie das bei Richard Rorty heißt). Deshalb ist er übrigens auch, ein Andeutungs-Nebenscherz Thomas Manns, im Roman gestaltet als eine Karikatur Gerhard Hauptmanns, der wiederum für seine physiognomische Ähnlichkeit mit Goethe berühmt war. “Persönlichkeit” ist, dem Essayisten Hans Castorp zufolge, ein “Mysterium, das über Dummheit und Gescheitheit hinausliegt”. Aber ihre “Wirkung ist da, das Dynamische, und wir werden in die Tasche gesteckt. (…) Setzen Sie in eine Ecke des Zimmers Herrn Naphta und lassen Sie ihn einen Vortrag über Gregor den Großen und den Gottesstaat halten, höchst hörenswert, – und in der anderen Ecke steht Peeperkorn mit seinem sonderbaren Mund und seinen hochgezogenen Stirnfalten und sagt nichts als ‘Durchaus! Erlauben Sie mir – Erledigt!’ Sie werden sehen, die Leute werden sich um Peeperkorn versammeln, alle um ihn, und Naphta wird ganz allein dasitzen mit seiner Gescheitheit und seinem Gotteststaat, obgleich er sich dermaßen deutlich ausdrückt, daß es einem durch Mark und Pfennig geht.” Wir haben uns etwas verlaufen, durch Thomas Mann verführt. Zeit, einen Schritt zurückzutreten. Leben, Persönlichkeit, das Dynamische, Essay, Mysterium. Und ich erinnere mich an eine Reise von Tbilissi nach Eriwan, wo Bude einen Vortrag zu halten hatte und wir Station in einem der armenischen Klöster aus dunkelgrauem Stein machten, die im Kaukasus zwischen Tiflis und Eriwan praktisch alle dreißig Kilometer stehen. Wir saßen dort, deutscher Soziologe und “local Goethe” (Gerhard Polt) wie aufgereihte Säulenheilige in Nischen eines längst verlassenen Refektoriums oder Auditoriums, niemand sonst war da, draußen wütete die armenische Sonne und wir unterhielten uns meiner Erinnerung zufolge, dem genius loci sehr entsprechend und vermutlich durch ihn angeregt, über die Möglichkeiten der Demokratie, religiöse Impulse in sich aufzunehmen und in politische Entscheidungen zu verwandeln. Was ich damit sagen will: Bude hat Sinn für das, was die Bastler sehen und mit ihrem Faseln irgendwie zur Geltung bringen wollen. Und er versteht, dass in diesen seltsamen Stör- und Stottergeräuschen manchmal das Eigentliche liegt. Er fährt den Bastlern (Essayisten, Künstlern, Stotterern, Mystikern) nicht über den Mund, sondern versucht, ihre lebendige Erfahrung im Medium des handwerklich “richtigen” Denkens zu rekonstruieren. Ein Zentralbegriff seiner wissenschaftlichen Laufbahn – der der Generation – ist ein solcherart rekonstuierendes Modell einer typischen Bastler-Erfahrung im Sprachspiel der Wissenschaft. Denn was jemand so in sich aufgenommen hat und verkörpert, einfach nur dadurch, dass er oder sie ein bestimmtes Alter hatte, ist schwer zu fassen und es bedarf eines beträchtlichen Empathie- und Denkaufwands, es wissenschaftlich handhabbar zu machen. Angst, Stimmung, Solidarität – die Themen der letzten Bücher Budes – sind andere Begriffe, die zurückgehen auf etwas “Schwieriges”, das viele Bürgerinnen und Bürger in ihrem Bastlertum lieber “halbwegs ausdrücken, als immer nur tadellose Hergebrachtheiten von sich zu geben”. Dieses Schwierige hat immer etwas Peeperkornistisches. Es geht mit ihm um etwas Lebendiges, um etwas Persönliches. Wenn man sagen will, was es ist, verstummt man bedeutsam, wie Peeperkorn (oder wie die Essayisten). Und doch muss man über all das dringend reden. Deshalb spricht Bude weiter, wenn wir Peeperkorns bedeutsam und bastlerhaft verstummen. Seine Bücher stellen für notwendige gesellschaftliche Konversationen eine mögliche Grundlage bereit. Die Umwandlung dessen, was die Bastler sehen und nicht richtig sagen können, in Begriffe, die wissenschaftlich stimmen und politisch operabel sind, scheint mir die Lebensarbeit des Soziologen Heinz Bude. Wie wichtig sie ist, sieht man daran, dass Basteln auch schief gehen kann, wenn ihm niemand kompetent zuhört. Dann wird der Bastler zum Tüftler. Er verhärtet und verbohrt sich. Die Wahlerfolge der AfD in Ostdeutschland und die Entgleisung der “documenta fifteen” sind Beispiele dafür und wir sehen Heinz Bude auf diesen Feldern nicht ohne Grund in intensiver Arbeit des Zuhörens, des Beratens und des Diskutierens begriffen. Man könnte es mit einem Begriff aus der modernen amerikanischen Militärsprache sagen: Bude ist ein embedded sociologist. Er ist in den Kämpfen der Demokratie beteiligt, aber nicht als Parteigänger, sondern als Übersetzer des noch unzureichend Verstandenen und als zusammenfassender Berichterstatter über das Verworrene des Kampfgeschehens an die Öffentlichkeit. Er macht uns alle zu über uns selbst informierten Bastlern, damit wir nicht in die Verbitterung und Verbohrtheit der Tüftler abgleiten. Ist die Tatsache, dass er das alles in so klarer, origineller, oft genug lustiger Sprache und mit so immerwachem Stilbewusstsein tut, der Grund dafür, dass ich ihm dabei seit Jahrzehnten so gern zuhöre wie kaum jemand anderem in Deutschland?